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Eigene Texte aus der Zeit der '68er Bewegung 


Die Jugend und die Revolte
   Die Notwendigkeit der Rationalität
      Unter Menschen
         Programmatik 1965
            Mein Selbstverständnis 1971

               Sexualität, Ethik und Demokratie (1967)
                  Politologie als Emanzipationswissenschaft (1968)
                     Kampf dem Sexual-Tabu (1969)
                        Zum Fall Mandel (1972)
                           Gegen die Aushöhlung der Demokratie (1975)
                              Marxistische Staatstheorie und politische Demokratie (1976)
                                 Die Thesen zur marxistischen Rechtstheorie von Oskar Negt (1976)
                                    Antwort auf die Kritik am "ahistorischen Vorgehen" in der normativen Rechtstheorie (1977)
                                      Die programmatische Diskussion der Linken vorantreiben (1977)
                                        Sozialismus - mit falschen Voraussetzungen (2003)
                                            An einen Anhänger des Marxismus-Leninismus (2005)
                                                Leserbrief (zum Artikel von J. Schönbohm) (2008)
                                                    Zur RAF (2008)
                                                       
Ein 68er

 

 

Die folgenden 4 Texte aus dem Jahr 1965 sind mehr Beispiele des damaligen Denkens in Teilen der Studentenschaft als heute noch gültige politische Überlegungen. Sie vermitteln jedoch recht anschaulich die Motive, aus denen sich der Protest speiste.

 

 

Die Jugend und die Revolte

(1965)

Warum lehnt sich gerade die Jugend gegen die bestehende Ordnung auf? Es liegt nicht an ihrer mangelnden Erfahrung. Es liegt daran, dass sie noch die Hoffnung und den Willen hat, ihre Zukunft nach ihren Wünschen zu gestalten. Es liegt daran, dass sie im Prozess der "Erziehung" zur schmerzhaften Anpassung an eine unterdrückerische Umwelt gezwungen werden soll. Sie hat sich noch nicht abgefunden mit den Verzichten und den Beschränktheiten, die die Erzieher ihr auferlegen wollen.

Dieser Kampf der Jugend um ihre Freiheit und ihr Glück ist keine "Jugendtorheit". Ihr Kampf gegen die unverantwortlichen Autoritäten und eine unterdrückerische Moral steht in dem geschichtlichen Zusammenhang des Kampfes der Menschen um ihre Selbstbestimmung, ist ein Kampf für die bessere Zukunft aller Menschen. Wenn sie die herrschenden Werte des Prestiges ablehnt, wenn sie nicht so werden will, wie die Erwachsenen es sind, so deshalb, weil sie ihre Spontaneität und ihren Anspruch auf Mündigkeit nicht in den Tretmühlen dieser Ordnung zerreiben lassen will.

Der Kampf gegen eine unterdrückerische Welt kann letztlich nur der Kampf der Unterdrückten selber sein, dieser Kampf kann nicht stellvertretend von den "Politikern" geführt werden. Politisch handeln heißt, die Bestimmung der eigenen Lebensverhältnisse auch in die eigenen Hände zu nehmen.

Für die Jugend, die in Unwissenheit und Unmündigkeit gehalten wird, der das Recht vernünftiger Selbstbestimmung vorenthalten wird, heißt das, dass sie sich in den Schulen und Lehrbetrieben organisieren muss, dass sie mit der Freiheit, wie sie in Musik, Tanz und Kleidung anklingt, ernst macht in ihrem tatsächlichen, alltäglichen Leben.

Immer noch wird mit allen Mitteln, mit dem direkten Verbot und der heimlichen Angst, der Jugend ihre sexuelle Befriedigung erschwert oder vorenthalten. Nicht die schon Verheirateten und Altgewordenen werden den Kampf gegen eine lustfeindliche Ordnung führen, sondern nur die, deren Gefühle noch nicht erwürgt und verbogen sind, nur die, die noch nicht in die patriarchalischen Muster eingepasst sind.

Die Hoffnung, einmal erwachsen zu werden und dann frei und unabhängig zu sein, hat sich als trügerisch erwiesen. Ohne eine politische und moralische Ordnung, die an den heute unterdrückten Bedürfnissen und Wünschen ausgerichtet ist, kann es auch für den Einzelnen kein befriedigendes Leben geben.

 

 

Die Notwendigkeit der Rationalität

 

(Handschriftlich ca. 1965)

 

Die Tatsache, dass in der Vergangenheit geschichtsphilosophische Systeme durch ihre Metaphysik und Dogmatik allerlei geistiges und politisches Durcheinander hervorgebracht haben, darf uns nicht daran hindern, unsere Gegenwart in den historischen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft einzuordnen und grundlegende historische Tendenzen zu erkennen, um die möglichen Wege und anstehenden Aufgaben der eigenen Zeit zu begreifen.

Natürlich kann uns keine noch so mächtige geschichtliche Tendenz zwingen, sie gut zu heißen und sie nicht beeinflussen zu wollen. Allerdings kann uns das Bewusstsein einer wirkenden historischen Tendenz dazu bringen, ihre positiven Chancen zu erfassen und sie nun bewusst und systematisch weiter durchzusetzen und zu entwickeln.

Auf den komplizierten logischen Charakter von geschichtsphilosophischen und "futurologischen" Aussagen und deren wissenschaftliche Beweisbarkeit soll nur hier nur hingewiesen werden. Auf jeden Fall haben solche Geschichtstheorien hypothetischen und prinzipiell provisorischen Charakter und sind von ihren historischen Prämissen natürlich von der weiteren Entwicklung falsifizierbar.

Mit der gebotenen Vorsicht soll hier skizzenhaft eine Ortsbestimmung der Gegenwart vorgenommen werden mit dem Ziel, die Chancen der Rationalität und deren Notwendigkeit deutlich zu machen, wobei es unumgänglich ist, recht weit gespannte und nur unvollkommen begründbare Theorien andeutungsweise zu entwickeln.

Alles Leben hat seine umweltmäßigen Lebensbedingungen, auf die das Lebewesen eingestellt ist. Auf den verschiedenen Stufen der organischen Entwicklung haben sich verschiedene Mittel herausgebildet, um ein erfolgreiches Verhalten des Lebewesens innerhalb seiner Umgebung zu erreichen: physiologische Reflexe, Organe zur direkten sinnlichen Wahrnehmung, instinktive Verhaltensmuster und ähnliches.

Auch beim Menschen gibt es solche Regelungen des Verhaltens, etwa kulturelle Traditionen, die Weltanschauungen und Moralsysteme sowie Orientierung durch systematische empirische Erkenntnis und logisches Denken. In der gesamten Geschichte des organischen Lebens kann dabei die Tendenz festgestellt werden, von relativ feststehenden vererbten Steuerungsmechanismen zu immer mehr aktuell realitätsbezogener Orientierung und Reaktionen fortzuschreiten, ausgehend von primitiven Reizmustern, die nur für relativ statische und günstige Umweltbedingungen ausreichen, bis zum intelligenten Verhalten, das eine Gestaltung selbst ungünstiger Umweltbedingungen zu Gunsten der eigenen Existenzmöglichkeit erlaubt.

Die Fortschritte in der höheren Organisation des Lebens gingen also gleichsam einher mit einem Wachstum an Realismus, worunter der Bezug auf die aktuelle Umwelt und deren Beschaffenheit verstanden werden sollen. Und es bedarf wohl keiner weiteren Begründung dafür, dass intelligente Orientierung und entsprechendes Verhalten eine bessere Garantie für erfolgreiche Existenz ist als Verhaltenssteuerung über physiologische und instinktive Automatismen oder auch dogmatische erkenntnismäßige und sittliche Traditionen.

Ein Instinkt kann immer nur in einen bestimmten Umweltzusammenhang funktionieren, ist deshalb auf eine gewisse Statik und Kontinuität der Umwelt angewiesen. Er hat aus sich heraus auch nicht die Tendenz, bessere Verhaltensmuster zu entwickeln. Dies kann höchstens auf dem Weg biologischer Mutation und Selektion entstehen.

(Nicht fertig gestellt)

 

 

 

Unter Menschen

 

(12/1965)

Im Allgemeinen ist die Erziehung bestrebt, einen Grundstock moralischer Gesinnung im Einzelnen zu schaffen, die verinnerlicht als übergeordnete Instanz des Gewissens sich ausdrückt. So großartig sich diese Prinzipien nun auch in hervorragenden Einzelnen vollendet haben, so offensichtlich ist es doch, dass diese Methode nicht ausreicht, um den Umgang der Menschen miteinander von vielen unnötigen Spannungen, Aggressionen, Beleidigungen und Rohheiten zu befreien. Oft tyrannisieren Menschen sich und andere gerade mit diesen Grundsätzen, starren Einstellungen und eingefahrenen Verhaltensweisen.

Der Grund für die mangelhafte Wirksamkeit solcher Gesinnungsmoral liegt in ihrer Blindheit für die Folgen des Handelns. Nicht dass dieser Gesichtspunkt überhaupt nicht in sie eingegangen wäre, aber letztes Kriterium ist für sie die Vereinbarkeit des Verhaltens mit unbefragbaren, autonom innerlich existierenden Normen.

Wollte man nun ein moralisches Bewusstsein bestimmen, das sein Verhalten auf die Folgen und die äußere Wirklichkeit abstellt, so käme als wichtigstes Organ die vernünftige Erkenntnis hinzu.

Sle würde jeweils sagen: "Diese Höflichkeit kostet mich nichts." - "Mit solchem Verhalten erschwere ich dem anderen seine Lage nur unnötig." - "Gehässigkeit, Neid und Rivalität nützen niemandem etwas." usw. Solche vernunftbestimmten Umgangsformen werden sich im Ergebnis weitgehend mit den traditionellen Normen decken, doch sind sie auf die Grundlage vernünftiger Einsicht gestellt und sind auf die äußere Realität direkt bezogen.

Es zeugt von einer pessimistischen Auffassung vom Menschen, wenn man diese Grundlage für zu schwankend häIt. Geleitet von der Einsicht, dass ein gemeinsames Interesse gegenseitiger Rücksichtnahme besteht und dass alle Normen und Gesetze ihre Berechtigung allein aus ihrem Nutzen für die Menschen ziehen, sollte es möglich sein, mit einer Haltung nüchterner Menschenfreundlichkeit unseren Umgang miteinander zu erleichtern und zu verbessern. Viel wäre schon gewonnen, wenn jeder wenigstens dort Konflikte vermeiden würde, wo seine eigenen Interessen gar nicht berührt werden.

Vielleicht sollte man auch die Unsitte absterben lassen, dass man Gesetzen wie den Verkehrsregeln an sich Gültigkeit zuschreibt und in unsinnigem Rigorismus selbst geringfügige Abweichungen maßregeln will, obwohl dadurch niemand behindert oder gefährdet wird. Stattdessen darf jemand, der durch unsinniges Pochen auf das eigene Recht anderen das Leben schwer macht, mit sich selbst gar noch zufrieden sein.

Vielleicht wird mancher mit einem Hinweis auf die psychische Genese der Verhaltensnormen solche Gesichtspunkte für unrealistisch halten, doch ist es nicht einzusehen, weshalb man sich hier der Tyrannei von Tatbeständen überlassen müsste und die Befreiung des vernünftigen Individuums nicht fortsetzen sollte.

 

Programmatik 1965

 

Demokratie, Wissenschaft, moderne Kunst

 

(Handschriftliche private Skizze ca. 1965)


Demokratie


Alle Menschen sollen gleichberechtigt die Gesellschaft selbst gestalten.

Die Menschen sollen nach den Regeln leben, die sie sich in gewaltloser Einigung selbst geben.

Kein Bereich der Gesellschaft soll von der Gestaltung durch die Betroffenen ausgenommen bleiben.

Die Menschheit soll sich in einer Weltgesellschaft zusammenfügen, um die kriegerische Durchsetzung von Interessen unmöglich zu machen.

Die Befreiung des Menschen soll im Zusammenspiel von fortschreitender Demokratisierung und Erziehung zur Mündigkeit angestrebt werden.

Die Gesellschaft soll Minderheiten größtmögliche Freiheiten einräumen, die nur durch begründeten Schaden für die Mehrheit eingeschränkt werden dürfen.

Gegen Gewaltherrschaft und Bevormundung soll die Solidarität der Unterdrückten geweckt werden.

Für alle menschlich beeinflussbare Not ist die Verantwortlichkeit aller zu wecken.

Jede Einschränkung der freien Kommunikation durch Tabuisierung soll abgebaut werden.

Die vollständige Emanzipation der Frau und des Jugendlichen ist zu erreichen.

Jede Machtausübung soll der Kontrolle der Betroffenen unterworfen werden.

Das Prinzip demokratischer Konfliktlösung durch öffentliche Diskussion und gleichberechtigte Abstimmung ist im gesamtgesellschaftlichen wie im privaten Bereich anzuwenden.

Die privaten Umgangsformen sind zu überprüfen und in freie Konventionen umzuwandeln.

Jede autoritäre Bevormundung politischer, moralischer und weltanschaulicher Art ist zu bekämpfen.

Gegen die Erzeugung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern.

Gegen jede Form von Unmündigkeit des Einzelnen.

Für eine Erziehung, die nicht auf Dressur sondern auf Einsicht beruht.


Wissenschaft

Das Prinzip logisch-empirischer Überprüfung ist auf jede Aussage über die Wirklichkeit anzuwenden.

Jede Form unwissenschaftlicher Ideologiebildung ist anzugreifen. Insbesondere jede Metaphysik.

Die Erforschung der tabuisierten Gebiete wie Sexualität, Perversionen, Verbrechen und andere ist voranzutreiben.

Nichts soll schlecht genannt werden, von dem keine schlechten Folgen feststehen.

Gesetze sollen den Menschen dienen.

Die Erforschung und Bekämpfung der Neurose als dem entscheidenden Übel unserer Kultur …

(nicht fertig gestellt)

 

***

 

 

Mein Selbstverständnis 1971


Die Studentenbewegung von 1968 bestand nicht nicht nur aus marxistisch orientierten Studenten sondern auch aus radikal-demokratisch und antiautoritär Denkenden. Die folgenden Texte vermitteln einen unmittelbaren Eindruck von den Zielen und Theorien dieses - oft vernachlässigten - Teils der 68er-Bewegung.


Ich schrieb 1971 in mein Notizbuch:
"Von meinem eigenen Bildungsgang her habe ich seit den langwierigen und schmerzhaften Auseinandersetzungen mit Christentum und evangelischer Theologie eine scharfe Ablehnung aller dogmatischen und nicht überprüfbaren Theorien. Diese Haltung wurde durch die Rezeption der logisch-empirischen Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie noch verstärkt und präzisiert. Jede autoritäre Inanspruchnahme der Wahrheit, die nicht der Kritik durch die Subjekte - und damit auch durch mich - ausgesetzt war, erregte meinen Widerstand.

Parallel damit ging eine vertiefte Rezeption der Demokratietheorie einher. Jeder Versuch, die Erkenntnis und den Willen der Subjekte im Namen einer "objektiven" Wahrheit wissenschaftlicher oder ethisch-politischer Art zu unterdrücken, war in meinen Augen zu bekämpfen. In der Studentenbewegung stand ich deshalb an der Seite der radikalen Hochschulreformer, also der Radikaldemokraten und Sozialisten. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen engagierte ich mich außerdem in den sexualpolitischen Aktivitäten die Schüler und Studenten.

Aber schon während der Zeit der Studentenbewegung ergaben sich theoretische Differenzen mit den linkshegelianisch beeinflussten Genossen. Deren Argumentationsformen und erkenntnistheoretischen Ansätze forderten meinen Widerspruch heraus, weil ich hier den Objektivismus und die Immunisierungsstrategien sah, die die Rechtfertigung für autoritäre Manipulation und Unterdrückung abgaben. Diese Auseinandersetzungen liefen für mich wohl damals schon vor dem Hintergrund der DDR und ihrer Rechtfertigungstheorie ab. (Die Auseinandersetzung mit der DDR war einer der Gründe für mich gewesen, zum Studium nach Berlin zu gehen). Ich war von dorther sensibilisiert gegen jegliche geschichtsphilosophische Objektivierung, ich sah die fatalen Schlüsse, die aus diesem Ansatz gezogen werden konnten.


Mit dem Auslaufen der antiautoritären Bewegung trennten sich deshalb meine Wege von denen der Masse der linken Studenten. Ich baute eine sexualpolitische Schülergruppe mit auf (Sexuelle Unterdrückung - Neurose - neue Lebensform), während ein großer Teil der Studenten mit der intensiven Marx-Lektüre in Form von "Kapital"-Arbeitskreisen begann. Ich machte diese damals einsetzende Bewegung, die ich als "Gang in die Orthodoxie" verstand, nicht mit, stand dieser Entwicklung skeptisch und abwartend gegenüber, wobei ich das positive Moment darin sah, dass damit eine ganze politische und philosophische Tradition, die im Westdeutschland der Nachkriegsjahre unterdrückt und verschüttet war, nun durch diese Bewegung wieder angeeignet wurde. Ich hielt diesen Durchbruch für einen notwendigen Prozess.

Meine Hoffnung ging jedoch dahin, dass sich der Diskussionsrahmen nach der Befriedigung dieses "Nachholbedarfs" wieder ausweiten würde. Autoritäre Fixierungen auf Mao, Che oder leninistische Parteidogmen vergrößerten jedoch immer stärker meine Distanz zu Teilen der sozialistischen Studentenbewegung. Ich selber wurde dann bei der Sexpol-Arbeit immer wieder mit historisch-materialistischen Argumenten konfrontiert und merkte, dass es ohne eine klar formulierte Theorie nicht ging.

Mein Dilemma lag darin, dass ich als logischer Empirist die analytische Unterscheidung von faktischen und normativen Aussagen machte. Aber wie konnte ich dann politisch-normativ argumentieren, wenn die Erfahrungswissenschaft hierfür nicht ausreichte?

Mein radikaler Demokratiebegriff reichte wohl für den praktischen Gebrauch, aber als Grundlage einer Kapitalismuskritik oder für eine sozialistische Strategie war er nicht zu gebrauchen. Mit irgendwelchen Wortzusammensetzungen von "Demokratie" und "Sozialismus" kam ich auf die Dauer nicht weiter. Ich nahm deshalb mein altes Projekt der "normativen Methodologie" wieder auf und studierte parallel dazu normative ökonomische Theorien. Ich hoffte noch auf die Weiterentwicklung des Diskussionsprozesses unter den Studenten und den sozialistischen Theoretikern, wobei dann auch meine Fragestellungen wieder thematisiert werden würden." (E.W. 1971)

 

***

Sexualität, Ethik und Demokratie

(1967)

Nachwort nach 40 Jahren

 


Das folgende Referat habe ich am 08.07.1967 gehalten auf einem Wochenendseminar des Allgemeinen Studenten-Ausschusses (AStA) der Freien Universität Berlin zum Thema "Sexualität und Gesellschaft".

 

Meine Damen und Herren,

in diesem Referat soll der Versuch gemacht werden, das Problem der Moral einmal etwas systematischer zu untersuchen. Vieles von dem, was ich Ihnen vortragen werde, wird Ihnen schon bekannt sein, aber einen Großteil der Überlegungen betrachte ich noch keineswegs als abgeschlossen, weshalb die anschließende Diskussion wichtig sein wird.

1. Die Problemstellung


Es begegnen uns laufend Sätze wie: "Du sollst nicht ehebrechen", "Man darf bei Rot nicht die Straße überqueren", "Die Löhne in der Textilindustrie sind zu niedrig", "Selbstbefriedigung ist schlecht", "Man soll Älteren im Bus seinen Platz anbieten" usw..

All diesen Sätzen, so verschieden sie auch klingen mögen, ist eines gemeinsam: Sie enthalten keine einfache Feststellung von Tatsachen, sondern stellen eine Forderung dar, eine Norm für das Verhalten oder eine Erwartung. Alle Sätze der Moral und des Rechts haben diese Struktur, aber ebenso auch alle politischen Forderungen. Das Problem ist nun, wie solche normativen Sätze als richtig oder falsch beurteilt werden können. Welche Kriterien gibt es, um eine Handlung als gut beurteilen zu können und sagen zu können: Sie soll sein?


2. Gescheiterte Begründungsversuche


a) Der wissenschaftliche Begründungsversuch


In den Sozialwissenschaften hat es einen jahrzehntelangen Streit darüber gegeben, ob man solche normativen Sätze bzw. Werturteile erfahrungswissenschaftlich überprüfen kann. Er ist in die Wissenschaftsgeschichte als "Werturteilsstreit" eingegangen. Mit der Ausbildung der modernen Wissenschaftslogik, die auf das Ziel intersubjektiver Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Aussagen ausgerichtet ist, hat sich heute die Ansicht durchgesetzt, dass man mit Hilfe der erfahrungswissenschaftlichen Methode zwar feststellen kann, was ist, dass sie aber nicht ausreicht, um feststellen zu können, was sein soll.


b) Der naturrechtliche Begründungsversuch


Die oben skizzierte logische Unterscheidung von Werten und Erkennen wird von den verschiedenen naturrechtlichen Ansätzen nicht berücksichtigt. Ihr Vorgehen kann man dahingehend beschreiben, dass sie die "Natur" oder das "Wesen" einer Sache bestimmen und daraus Forderungen für das menschliche Handeln ableiten.

Es heißt zum Beispiel: "Der Sinn der Sexualität ist die Fortpflanzung. Deshalb sind Empfängnisverhütung und Selbstbefriedigung unmoralisch."

Die Schwäche dieser naturrechtlichen Ansätze, wie sie von der katholischen Moraltheologie und manchen Rechtsphilosophen vertreten werden, besteht darin, dass sich diese "natürliche Bestimmung", dieser "Sinn" gar nicht erkennen lässt. Wieso gehören die Lustempfindung, die gefühlsmäßige Befriedigung nicht zum "Wesen" der Sexualität? Es handelt sich hier gar nicht um die Erkenntnis dessen, was ist, wenn das "Wesen" der Sexualität bestimmt wird, sondern schon um eine verborgene Wertung. Insofern bleibt der Satz der modernen Erkenntnistheorie gültig, dass man aus der Erkenntnis dessen was ist, nicht logisch folgern kann, was sein soll.

Aus demselben Grunde müssen auch alle anthropologischen und geschichtsphilosophischen Ableitungen normativer Sätze scheitern. Es heißt etwa: "Der Mensch ist auf Freiheit angelegt. Deshalb sind die Forderungen nach Demokratisierung berechtigt." Die gedankliche Verwirrung liegt hier in dem Wort "angelegt". Es täuscht vor, dass eine Tendenz oder Möglichkeit der menschlichen Entwicklung automatisch mit dem Guten und Wünschbaren zusammenfällt. Dies Prinzip erweist sich als unbrauchbar, wenn man erkennt, dass im Menschen auch Schädliches angelegt ist und unsere historische Entwicklung auch negative Trends enthält.

Gelegentlich tauchen auch moralische Regeln auf wie: "Du sollst menschlich handeln" oder "Man soll das Gute tun". Diese Sätze sehen aus wie ewige moralische Gesetze, sind es vielleicht auch. Ihr Mangel ist nur, dass sie überhaupt nichts Inhaltliches aussagen. Das Problem moralischer Entscheidung fängt nämlich erst da an, wo man bestimmen soll, was denn "menschlich" und "gut" ist. Bis dahin sind sie bloße Leerformeln, normative Tautologien nach Art des Satzes "Man soll nichts übertreiben."

Ich fasse das bisher Gesagte zusammen:

Werte lassen sich nicht in der Weise überprüfbar erkennen wie Tatbestände. Es lässt sich wissenschaftlich nur bestimmen, was ist, aber nicht, was sein soll. Aus der Feststellung dessen, was ist, kann ich logisch nicht folgern, was sein soll. Selbst wenn sich der Lauf der Geschichte vorhersagen ließe, wäre er damit noch nicht automatisch wünschenswert und gut. Normative Leerformeln verschieben das Problem nur.

3. Die dogmatischen Auffassungen der Ethik

Neben diesen als gescheitert anzusehenden Begründungsversuchen moralischer und politischer Normen gibt es eine Reihe weit verbreiteter Auffassungen, die sich gar nicht überprüfbar begründen wollen, und die deshalb ihrem eigenen Anspruch nach auch nicht kritisierbar oder bezweifelbar sind. Ich will sie die "dogmatischen Auffassungen" nennen. Sie gehen von einem absoluten Sittengesetz aus, das entweder in religiösen Lehren oder aber auch im sittlichen Empfinden enthalten ist.

Solche dogmatischen Auffassungen von Moral und Recht bestimmen noch weitgehend unser Zusammenleben und die Gesellschaft, und es bleibt nur zu hoffen, dass der Prozess der moralisch-politischen Entdogmatisierung unter weniger Schwierigkeiten sich vollziehen kann als es einst der Prozess der wissenschaftlichen Entdogmatisierung konnte. Die dogmatischen Moralsysteme enthalten nämlich folgende Gefahren:

1. Sie stellen einander widersprechende Auffassungen dar, für die es keine Möglichkeit der Einigung gibt. Daraus folgt, dass das notwendige Zusammenleben der Menschen erschwert wird.

2. Mögliche Irrtümer in diesen dogmatischen Auffassungen sind nicht kritisierbar, was zu schwerem Schaden führen kann.

3. Das Individuum, das solchen einander widersprechenden und falschen Moralsystemen ausgesetzt ist, bezahlt diesen Ballast an Verboten mit ungerechtfertigten Schuldgefühlen und Neurotisierungen.

4. Ein neuer Ansatz als Konsequenz aus der Situation

Die philosophische Situation auf dem Gebiet der Ethik lässt sich nach dem bisher Gesagten dahingehend umreißen, dass das "Gute" sich nicht unabhängig von menschlichen Entscheidungen bestimmen lässt. Muss man daraus nun die Konsequenzen eines willkürlichen Subjektivismus ziehen, muss man sich damit begnügen, "dass nun einmal alle Wertungen subjektiv sind"?

Eine solche Resignation scheint mir den sozialen Notwendigkeiten zu widersprechen, denn wir müssen dauernd auf allgemeinverbindliche Normen zurückgreifen, wir brauchen zum Beispiel ein Strafgesetz, wir beurteilen das Verhalten der Menschen und unser eigenes an Hand von allgemeinen Maßstäben, wir erziehen unsere Kinder moralisch usw..

Wer aus einer verständlichen Verbitterung über die traditionelle Tabumoral und ihre repressive und ideologische Funktion nun überhaupt darauf verzichten will, so etwas wie einen moralischen Maßstab zu errichten, der übersieht, dass wir vom Verhalten anderer Menschen unausweichlich betroffen sind und folglich an einer allgemeinverbindlichen Regelung des Umgangs miteinander, d. h. an einer Moral, interessiert sind.

Es scheint deshalb notwendig, einen anderen Begründungsversuch ethischer Normen zu unternehmen, wobei das Ziel sein soll, eine Moral zu finden, auf die sich alle Menschen ohne Gewalt oder Bevormundung in vernünftiger Weise einigen können.

5. Das Argument mit dem Schaden einer Handlung

Um die zu entwickelnden Prinzipien anschaulicher werden zu lassen, will ich sie an Hand eines konkreten Beispiels erörtern. Es gibt etwa die traditionelle Anschauung: "Vorehelicher Geschlechtsverkehr ist etwas Schlechtes. Jugendliche sollen nicht miteinander schlafen."

Die Frage ist nun: Wie ist es möglich, für oder gegen eine solche Anschauung zu argumentieren, so dass die Argumente für jedermann prinzipiell einsehbar sind?

Eine Argumentation, die für jedermann anerkennbar wäre, bestünde in dem Nachweis, dass sich aus der umstrittenen Handlung ein Schaden ergibt. Aber wie kann man feststellen, ob eine Handlung schädlich ist? Konkrete Antworten wären etwa: "Vorehelicher Verkehr birgt das Risiko einer unerwünschten Schwangerschaft in sich, vermindert die Fähigkeit zur späteren ehelichen Treue, führt zu Schuldgefühlen und Unglück usw."

Was ist all diesen Antworten gemeinsam, was bedeutet der Begriff "Schaden" ? Man kann feststellen, dass jedesmal Folgen des umstrittenen Verhaltens genannt werden und dass diese dann mehr oder weniger ausdrücklich als schlecht bewertet werden. Gegen ein solches Argument kann man immer den Zweifel vorbringen, ob die Handlung tatsächlich zu diesen Folgen führt. Es wäre also jeweils ein wissenschaftlicher Nachweis nötig, wenn das Argument auch andere überzeugen soll. Denn jemand könnte auch ganz andere Aussagen über die Folgen vorehelichen Verkehrs machen, er könnte etwa sagen: "Vorehelicher Geschlechtsverkehr fördert eine angemessene Partnerwahl, ist eine Einübung in die Ehe, fördert die Entwicklung der Persönlichkeit usw.."

Um über die Schädlichkeit einer Handlung entscheiden zu können, muss also durch überprüfbare medizinische, psychologische und soziologische Forschung, durch Experimente oder durch die Analyse statistischer Daten die Frage nach den Folgen geklärt werden. Eine selbstverständliche Forderung, gegen die aber dennoch laufend verstoßen wird.

Eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung könnte auch herausfinden, dass das Verbot viel zu allgemein war, dass in Wirklichkeit ein anderer Faktor die zusätzliche Bedingung für die Folge war: dass etwa vorehelicher Verkehr nur unter der Bedingung zu Schuldgefühlen und Unglück führt, dass er mit der tief gehenden Drohung der Sünde belastet wird. Man könnte u. U. herausfinden, dass bei als "böse" tabuisierten Handlungen der Mechanismus einer "self-fulfilling prophecy" - einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung - eine Rolle spielt, dass nämlich die Sexualität nur dadurch in abstoßenden und kriminellen Formen vorkommt, weil sie als sündhaft, verwerflich oder gemein diffamiert wurde.

Aber es geht mir hier nicht um die Richtigkeit oder Falschheit einiger Behauptungen über die Folgen vorehelichen Verkehrs, sondern um die Prinzipien einer für jedermann anerkennbaren Argumentation. Wir halten also fest, dass man bei der Argumentation für oder gegen eine moralische Norm von einer überprüfbaren Erkenntnis über die Folgen der betreffenden Handlung ausgehen muss, d.h dass die wissenschaftliche Erkenntnis der Realität die Bedingung einer moralischen Gesinnung ist.

Wir hatten gesagt, dass das Argument der Schädlichkeit einer Handlung aus einem Nachweis der Folgen und aus deren Beurteilung als schlecht bestehen muss. Aber wie kann ich feststellen, ob die Folge schlecht ist?

Wir hatten den Begriff des Schadens ja gerade eingeführt, um zu bestimmen, was schlecht ist. Trotzdem haben wir uns nicht nur im Kreis gedreht, denn zu beurteilen, ob vorehelicher Verkehr schlecht ist, ist sehr viel leichter, wenn man über die Folgen Bescheid weiß, denn die Folgen sind leichter zu beurteilen. Über sie lässt sich auch leichter eine einheitliche Bewertung abgeben.

6. Das Wohl der Betroffenen als Gesichtspunkt

Im allgemeinen wird eine Einigung über die Folgen einer Handlung ausreichen, um auch über ihre moralische Beurteilung zu einem einheitlichen Urteil zu kommen, aber zum Beispiel bei Fragen der politischen Ordnung reicht ein solches Argument noch nicht aus. Wir müssen das Problem also theoretisch noch weiter klären und uns fragen: Warum ist eine Sache schlecht? Allgemein anerkennbar wäre das Argument, dass sie gegen das Wohl der Betroffenen ist.

Wichtig dabei ist, dass man das Wohl aller davon Betroffenen berücksichtigt. Denn wenn dabei das Wohl eines Einzelnen nicht mit in Erwägung gezogen worden ist, kann man schwerlich von ihm verlangen, dass er der Bewertung zustimmt. Das Wohl aller Betroffenen wäre identisch mit dem Allgemeinwohl, denn wer von einer Handlung oder Maßnahme überhaupt nicht betroffen ist, ist gegenüber ihrer Bewertung gleichgültig. Wie ließe sich aber nun dies Allgemeinwohl bestimmen?

Wir können erst einmal feststellen, dass das Wohl jedes Menschen in gleicher Weise berücksichtigt werden müsste, denn ein Unterprivilegierter könnte der Ordnung schwerlich in der Weise zustimmen, wie wir es anfänglich gefordert haben, nämlich in vernünftiger Einsicht, ohne Gewalt und Bevormundung. Daraus ergibt sich, dass bei Berücksichtigung aller Folgen aus allen möglichen Entscheidungen diejenige zu wählen ist, die dem Wohl der meisten Menschen dient.

Hier taucht jedoch noch ein Problem auf, denn was machen wir, wenn eine Sache dem einen zwar etwas hilft, bei dem andern jedoch ein lebenswichtiges Interesse verletzt?

Man könnte vorweg sagen, dass - wenn gleichviel Individuen betroffen sind - man sich für die mit dem stärkeren Bedürfnis entscheiden sollte. Für eine genauere Entscheidung brauchte man jedoch eine Rangfolge der Werte etwa nach Art der juristischen Güterabwägung.

Die Problematik einer solchen Konsensbildung soll hier nicht weiter erörtert werden. Stattdessen will ich mich dem komplizierten Problem zuwenden, wie sich das Wohl eines einzelnen Menschen bestimmen lässt, denn aus der Summe aller einzelnen soll sich ja das Allgemeinwohl zusammensetzen. Wie kann man entscheiden, ob eine Sache für ein Individuum gut ist?

Wir wenden wieder ein rationales Entscheidungsmodell an. Wir fragen nach den Folgen einer Sache und ob diese mit den Zielen des Individuums im Einklang sind. Diese Ziele nun sind nicht unabhängig von den Entscheidungen des Individuums bestimmbar. Ich kann diese Ziele zwar in Frage stellen, ich kann ihm Bedürfnisse nachweisen, die ihm unbewusst waren, ich kann ihm Widersprüche in seinen Zielen nachweisen, ich kann ihm Bedürfnisse als scheinhaft und nicht wirklich seine eigenen nachweisen, aber letztlich entscheidet doch seine eigenes Urteil. Selbst einem Menschen, der entschlossen ist, sich das Leben zu nehmen, kann ich letztlich nicht beweisen, dass es für ihn besser ist, weiterzuleben. Nur bei Individuen, denen die nötige Vernunft fehlt, etwa bei kleinen Kindern, wäre es gerechtfertigt, sie nicht über ihr eigenes Wohl entscheiden zu lassen. Prinzipiell soll jedoch gelten, dass die freie und rational geklärte Einsicht der Individuen bestimmen soll, was für sie gut ist, und dass ein gewaltloser und rational geklärter Konsens bestimmt, was für die Allgemeinheit gut ist, das heißt, was moralisch gut und politisch gerecht ist.

7. Die undogmatische Moral und das Zusammenleben der Menschen

Ich hoffe, dass dieser Begründungsversuch moralischer Normen für Sie nicht zu anstrengend und abstrakt war. Er erweist sich in seinen Konsequenzen jedoch als recht fruchtbar. Er bedeutet nämlich, dass alle Moralgesetze, Verhaltensregeln, Forderungen und politische Programme ihre Berechtigung allein aus dem aufgeklärten Willen der Individuen ableiten können. Keine Regelung, der man uns unterwerfen will, ist gerechtfertigt, wenn unser Wille dabei nicht berücksichtigt ist.

Die unzähligen Konventionen, die uns umgeben und unser Verhalten bestimmen, sind in der Mehrzahl gar keine Konventionen, denn wir haben an diesen freien Übereinkünften nie mitgewirkt. Alles, was sich den Anschein des Allgemeingültigen gibt, kann seine Gültigkeit nur aus dem Willen der Betroffenen, zu denen auch ich gehöre, gewinnen. Keine Forderung oder Anordnung braucht hingenommen zu werden als berechtigt, wer immer sie auch vertritt, alle Ordnungen und Anordnungen können zur Diskussion gestellt werden. "Ich soll?" Wessen Wille ist es, dass ich soll? In wessen Interesse ist es, dass ich soll?

Nun ist es allerdings gerade bei den sexuellen Normen und Konventionen schwierig, sie zur Diskussion und zur vernünftigen Einigung zu stellen, für das Kind gegenüber seinen Eltern, für den Einzelnen gegenüber dem andern und vielleicht auch gegenüber dem Partner. Denn immer noch findet im sexuellen Bereich eine infantile Einschüchterung statt, werden den Jugendlichen Informationen darüber vorenthalten, wird es mit dem Schleier des Privaten umgeben. Es findet immer noch eine raffinierte Tabuisierung statt, die den Verboten gerade in ihrer Unartikuliertheit die Macht bewahrt.

Aber das Prinzip, dass die Normen des Umgangs miteinander dem gemeinsamen Willen der souveränen Individuen entsprechen sollen, dass sie sozial und real ausgerichtet sollen und jederzeit verändert werden können, wenn es wünschenswert ist, dies Prinzip hat auch für die Sexualität Gültigkeit. Es gibt überhaupt keine eigenen Prinzipien der Sexualmoral, sondern hier wie anderswo sind die Grundsätze dessen gültig, was wir uns nach unserer eigenen Einsicht nicht antun wollen, uns nicht belügen, nicht weh tun, nicht Gewalt antun und nicht ausnutzen. Machen wir Ernst mit der Freiheit und der Vernunft.

8. Die radikale Demokratie und der Zustand unserer Gesellschaft

Was ich hier dargelegt habe, ist die Grundidee einer demokratischen Gesellschaft nach dem Prinzip der gewaltlosen Einigung auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Vernunft. Nur dass ich dies Prinzip radikaler gefasst habe und von der politisch-rechtlichen Sphäre auf die privat-moralische übertragen habe, mit dem Ziel, unsere Sittengesetze und besonders die tabuisierte Sexualmoral aus ihrer traditionsgebundenen und dogmatischen Fixierung zu lösen. Die parlamentarische Demokratie ist ein Ansatz, der dem hier dargelegten Prinzip in vielem schon entspricht:

Um die politischen Alternativen und deren Konsequenzen möglichst irrtumsfrei erkennen zu können, gibt es eine öffentliche Diskussion, die durch die Grundrechte der Informationsfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Koalitionsfreiheit und durch die Legalisierung einer Opposition gewährleistet werden soll.

Um die Entscheidungen der Politik im Sinne und nach den Bedürfnissen der Betroffenen fällen zu können, gibt es gleiche, freie und geheime Wahlen von repräsentativen Vertretern, die die gesetzgebende Körperschaft des Parlaments bilden.

Um sich über die Folgen eines Gesetzes und die vorhandenen Ziele möglichst klar zu werden, sind mehrere Lesungen und Diskussionen für die Gesetze vorgesehen, und bei wichtigen Gesetzen wie Verfassungsänderungen sind zusätzlich qualifizierte Mehrheiten erforderlich.

Aber die Prinzipien radikaler Demokratie, die als einzige Legitimation jeder normativen Ordnung den aufgeklärten Willen der Betroffenen gelten lassen, geben auch den Maßstab scharfer Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Denn das Prinzip der demokratischen Wahl steht und fällt mit der Informiertheit der Bürger über die möglichen politischen Wege, mit ihrer Kenntnis der realen politischen Zusammenhänge und ihrer Aufgeklärtheit über die eigenen Bedürfnisse.

Und in dieser Hinsicht ist es in unserer Gesellschaft schlecht bestellt:

Man braucht nur unsere Bildungseinrichtungen zu betrachten. Dauer und Inhalt unserer Schulbildung sind im Durchschnitt völlig unzureichend, um die Fähigkeit zu vernünftiger Mündigkeit zu vermitteln.

Der gewaltige Apparat der Reklame täuscht den Einzelnen über seine Bedürfnisse und nutzt diese aus, um ihm mit Profit Dinge zu verkaufen, die er gar nicht braucht.

Hilflos ist der Einzelne angeblichen "Wirtschaftsgesetzen" ausgeliefert, die in Wirklichkeit auf einer Rechts- und Eigentumsordnung beruhen.

Die Institutionen der Erziehung sind erfolglos in der Vermittlung der Werte des gesellschaftlichen Fortschritts und der individuellen Bildung mit dem Ziel größerer menschlicher Freiheit.

Stattdessen werden Verhaltensweisen wie Konkurrenz, Aggression, Dogmatismus und Konformismus ausgebildet, die mit einem reduzierten Interessenhorizont zusammengehen, was Politik, Weltanschauung und Kultur betrifft.

Die Tabuisierung politischer, weltanschaulicher und sexueller Themen bedroht kritisches Denken mit Angst und behindert die Kommunikation darüber, so dass die Individuen ihre Interessenübereinstimmung überhaupt nicht feststellen können.

Die Massenpresse verkauft sich mit der Spekulation auf asoziale und verflachte Antriebe ihrer Leser, die sie ausnutzt und noch verstärkt. Die Massenmedien und die übrige Presse stellen zum Großteil eine Pseudoöffentlichkeit des unfreien Konformismus dar, beeinflusst durch die wirtschaftlich Mächtigen. Anstatt die Schwächen und Schattenseiten unserer Gesellschaft zu kritisieren, helfen sie noch mit, sie zu vertuschen oder zu rechtfertigen. In weiten Bereichen unserer Gesellschaft sind die Betroffenen entmündigt, können sie ihre Lebensbedingungen nicht selbst bestimmen, sei es im Betrieb, in der Universität, der Schule oder der Armee. Und selbst die Struktur unserer Parteien und Gewerkschaften lässt an Demokratie zu wünschen übrig.

Die unfreie Gesellschaft und der unfreie Mensch bedingen und stützen sich gegenseitig. Eine Rechtsprechung, für die jeder Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe "Unzucht" ist, und ein Individuum, das vor Scham und Angst seine sexuellen Probleme nicht mitteilen und seine Wünsche nicht verwirklichen kann, sind nur die zwei Seiten einer Medaille.

Solange wir moralische und politische Ordnungen als selbstverständlich hinnehmen und dogmatisch vertreten, solange wir nicht immer nach ihrer Berechtigung als Ausdruck eines demokratischen Willens fragen, solange wird diese Gesellschaft nicht erträglichere Lebensbedingungen hervorbringen.


Nachwort nach 40 Jahren

Im Prinzip stehe ich auch heute noch zu den damals von mir vertretenen Thesen, allerdings sehe ich heute die offenen Fragen an diese "radikaldemokratische" Position deutlicher. So wird das Mehrheitsprinzip und dessen Verhältnis zum aufgeklärten Konsens gar nicht thematisiert. Das Verhältnis von Entscheidungsverfahren - wie z. B. Abstimmungen - zu inhaltlichen Diskussionen bleibt ebenfalls ungeklärt.


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Der folgende Text war Teil einer Artikelserie in der Zeitschrift "blickpunkt" des Landesjugendrings Berlin. Er erschien im Februar 1969
.

Kampf dem Sexualtabu


(1969)


In den vergangenen Jahren hat bei uns so etwas wie eine Jugendrevolte begonnen. Was war das Wesentliche an dieser Revolte? Zum einen: die neue Begründung der Gesellschaftskritik. Die vorgegebenen Ordnungen in Schule, Universität, Betrieb oder Kirche wurden danach befragt, ob sie nach dem Willen und den Bedürfnissen der in ihnen Lebenden und Arbeitenden waren. Alle anderen Rechtfertigungen als diese radikal demokratischen wurden nicht anerkannt. Alles was sich nur durch Tradition, Autorität, Gewohnheit oder pure Gewalt erhielt, verfiel dieser Kritik. Die Interessen der gesellschaftlichen Organisationen, der Staaten, Parteien, Kirchen usw. galten nichts, wenn sie sich nicht ausweisen konnten als die Bedürfnisse und Interessen der Menschen. Es breitete sich der Wille aus, eine Welt nach den eigenen Bedürfnissen zu schaffen, sich nicht mehr von den alt und resigniert Gewordenen einschüchtern und bevormunden zu lassen.

Das zweite, was diese Revolte auszeichnete, war die Entschlossenheit, diese Kritik auch in Handeln umzusetzen, nicht zu warten auf die offiziellen Vertreter, nicht zu hoffen auf die Verantwortlichen. Man gab sich nicht mit der klugen Kritik zufrieden, man wollte diese auch praktisch verwirklichen. Man diskutierte nicht nur, sondern fing an, die eigenen Bedürfnisse zu organisieren und für sie zu kämpfen. Man ahnte, dass die bürokratischen Apparate der Gesellschaft, in denen die Individuen vereinzelt und hilflos waren, durch einen kollektiven Kampf umgewandelt werden konnten, so dass der einzelne darin nicht nur ein Rädchen war, über dessen Arbeitskraft andere verfügten.

Manch einer wird sich im Augenblick wohl fragen, was solch eine politische Einleitung soll bei einem Thema wie "Sexualität" : das sei doch etwas Kulturelles und ginge als moralische Frage nur jedes Individuum privat an. Sexualmoral sei doch keine Frage des politischen Kampfes, sondern etwas Gewachsenes und falle in die Zuständigkeit der Pfarrer oder Ärzte.

Wer so denkt, übersieht, dass die sexuelle Frage ja tatsächlich ein wichtiger Punkt der Studenten- und Schülerrevolte war — und noch ist. Nicht zufällig nahm die Mai-Revolte in Frankreich Ihren Ausgang vom Konflikt um die Hausordnung eines Studentenwohnheims. Außerdem übersieht er, dass sich der Begriff von "Politik" als der bewussten Gestaltung der Gesellschaft nicht mehr wie zu Zeiten unserer Eltern vor allem auf nationale Größe, militärische Stärke und Wirtschaftskraft konzentriert, sondern dass in zunehmendem Maße solche "kulturellen" und "privaten" Bereiche wie Erziehung, Familienstruktur, Wissenschaft, Kunst usw. als "politisch" begriffen werden und als geprägt durch vorherrschende Interessen.

Doch zurück zu den beiden oben ausgeführten Prinzipien der Revolte. Sie waren:

1. Kritik an den gesellschaftlichen Ordnungen von den Bedürfnissen der Individuen her und

2. Umsetzung dieser Kritik in eine gesellschaftliche Praxis durch die Betroffenen selber.

Diese beiden Grundsätze machen auch die theoretische Grundlage für den Kampf gegen die überkommene Sexualmoral aus. Wenn in dieser Artikelserie die Rolle der Sexualität in unserer Gesellschaft diskutiert wird, so stehen dabei immer zwei Fragen im Hintergrund:

1. Wo wird den Individuen durch die moralischen Ordnungen, in denen sie leben, Gewalt angetan? und

2. Wie können sie sich gegen ihre sexuelle Unterdrückung zur Wehr setzen?

Dieser Aufsatz soll als zentrales Thema den Tabu-Charakter der Sexualität haben. Es soll darin deutlich gemacht werden, mit welchen Methoden die Gesellschaft das Sexualtabu erzeugt und aufrechterhält, welche Konsequenzen das für die Freiheit und Mündigkeit der Individuen hat und wie die ersten Schritte im Kampf gegen das Sexualtabu aussehen können.

 

Was ist mit "Tabu" gemeint?

Das besondere an den sexuellen Verbotsnormen ist ihre tiefe gefühlsmäßige Verankerung, ihr Tabu-Charakter. Anders als etwa das Verbot, bei Rot die Straße zu überqueren, sind die sexuellen Verbote vom Individuum meist tief "verinnerlicht", sie gehören gewissermaßen zu seinem Charakter. Das Wort "Tabu" deutet die gleichsam religiöse Scheu an, mit der die Sexualität belastet ist. "Tabu", das hieß in den sogenannten primitiven Kulturen: das Verbot, etwas Bestimmtes zu berühren, zu sehen, davon zu sprechen oder auch nur daran zu denken. War es trotzdem einmal unumgänglich, so konnte man dies nur unter größten Vorsichtsmaßregeln und strengsten Ritualien tun. Tabu-Verletzungen rufen heftige Ängste hervor, selbst wenn gar keine reale Bestrafung zu erwarten ist. Ein Tabu wird deshalb auch nicht auf Grund von rationalen Überlegungen befolgt, sondern wird vom Einzelnen als ein "über ihm stehendes Prinzip" empfunden.

 

Das sexuelle Tabu in der Erziehung

In unserer Gesellschaft ist der strenge Tabu-Charakter des Sexuellen an vielen Stellen durchbrochen. Ein Beispiel dafür ist die geschäftliche Ausnutzung sexueller Reize in der Werbung und in der Freizeitindustrie (wobei dies allerdings kein Hinweis auf eine größere sexuelle Befriedigung der Menschen sein muss). Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Schwinden kirchlichen Einflusses ist auch die Erzeugung religiöser Ängste als Mittel zur sexuellen Unterdrückung im Rückgang begriffen. Trotzdem erscheint es weiterhin berechtigt, von einer Tabuisierung der Sexualität in unserer Gesellschaft zu sprechen, wenn sie auch weitgehend in die Kindererziehung verlagert ist.

Die Sexualtabus sind bei uns nach dem Lebensalter abgestuft; je jünger man ist, desto schärfer ist das Tabu, desto weniger erfährt man über Sexuelles, und desto strenger wird man von allen sexuellen Dingen ferngehalten. Jeder kennt diesen Tatbestand aus seiner eigenen Erziehung: Bestimmte Gespräche der Erwachsenen wurden abgebrochen, wenn man als Kind dazu kam; bestimmte Bücher der Eltern waren den Kindern verboten oder verborgen; auf bestimmte Fragen entstand Peinlichkeit; bestimmte Worte erregten den Unwillen der Eltern und Lehrer; die sexuelle Beziehung der Eltern wurde vor den Kindern möglichst verborgen; sexuelle Aktivitäten der Kinder, wie das Interesse für die körperlichen Besonderheiten des anderen Geschlechts oder das Spielen an den eigenen Geschlechtsteilen, wurde meist streng bestraft usw. So existiert in unserer Gesellschaft ein recht kompliziertes System abgestufter sexueller Tabuisierung. Für jede Altersstufe gibt es ein bestimmtes Maß für die jeweils zugelassenen Informationen. Wenn z. B. ein Kind schon mit sieben Jahren über das Sexualverhalten des Menschen gut Bescheid weiß, so gilt es bei den Erziehern meist als "verdorben", und anderen Kindern wird von ihren Eltern vielleicht gar der Umgang mit diesem Kind verboten. Damit die Erzieher ihr Monopol in der Information beibehalten — und damit auch ihre Autorität als Erwachsene, als Ältere und Erfahrene —, wird auch den Kindern selbst wieder beigebracht, dass sie Jüngeren über sexuelle Dinge nichts erzählen dürfen. Dies wird ihnen meist dadurch schmackhaft gemacht, dass sie dadurch Ja zu dem Kreis der "Eingeweihten" gehören, dass sie sich stolz und erhaben vorkommen können über die unwissenden Jüngeren.

Durch all diese Praktiken des Bestrafens, Verschweigens, Verbietens und Verbergens, die schon mit dem Säuglingsalter beginnen, lernt das Individuum seine sexuellen Impulse als etwas Bedrohliches anzusehen. Es reagiert ganz automatisch mit Scham und Abscheu darauf. Die Tabuisierung der Sexualität kommt ihm selber als etwas "Natürliches" vor, denn es hat so empfunden, solange es sich zurückerinnern kann. (Erzieher sprechen gern vom "natürlichen Schamgefühl", obwohl ihnen bekannt sein sollte, dass diese Scham sich in verschiedenen Gesellschaften auf ganz verschiedene Dinge bezieht, also anerzogen ist.) Dieser psychologische Mechanismus stellt ein großes Hindernis in der Selbstbefreiung der Menschen dar: Das Individuum macht die Anschauung über Gut und Böse, die ihm von seiner Umwelt mit allen Mitteln aufgezwungen wurde, auf unbewusstem Wege zu seiner eigenen und ist dann meist nicht mehr in der Lage, sie noch einmal kritisch zu überprüfen. Wenn jemand durch die Mühle unserer sexualfeindlichen Erziehung gegangen ist, so kann er auch später, wenn er nicht mehr unter der direkten Gewalt der Erziehung steht, nur schwer einen anderen Weg gehen. Nur zu häufig überträgt er auf seine eigenen Kinder unbesehen die Muster, die ihn selbst geprägt haben.

 

Kontaktschwierigkeiten

Von der infantilen Einschüchterung her und ihrer lebenslangen Wirkung wird verständlich, dass sich die Tabuisierungen der Sexualität auch im späteren Alter fortsetzen. Die Normen dieser Gesellschaft stellen eine scharfe Reglementierung dar, die es dem einzelnen schwer machen, seine Gefühle, seine Zuneigungen, seine Wünsche nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeit zu äußern und zu realisieren. Die Kontakte zwischen den Geschlechtern werden systematisch beschränkt. Zwar beginnt die Geschlechtertrennung in Schulen, Jugendgruppen usw. allmählich zu verschwinden, aber von einem freien Zusammenleben der Geschlechter kann immer noch nicht die Rede sein. "Es gehört sich nicht", jemanden auf der Straße anzusprechen oder sich ansprechen zu lassen. Für alle Möglichkeiten gibt es einen Kanon des Anstandes: wann man eine Reise gemeinsam machen darf, wann man jemand mit in die eigene Wohnung nehmen darf, wie weit man in einem Flirt gehen darf, wie direkt man seine Wünsche äußern darf usw. Natürlich sind diese Vorschriften nicht in allen Schichten und Gruppen gleichartig und gleichstark, aber die herrschende und offizielle Moral ist durch eine strenge Reglementierung gekennzeichnet. Ein Symptom dafür sind die vielen Zeitungsanzeigen unter der Rubrik "Bekanntschaften, Heiratswünsche". Jeder weiß wahrscheinlich am besten selber, wie viel Mut und Selbstüberwindung es oft kostet, sich dem anderen Geschlecht zu nähern — und wie oft man es nicht fertig bringt. Die Reglementierung der sexuellen Kontakte durch die Gesellschaft ist also ein wichtiges Instrument der sexuellen Unterdrückung.

 

Verständigungsschwierigkeiten

Die Tabuisierung der Sexualität schlägt sich auch in der Sprache nieder. "Man spricht nicht darüber", und die sprachlichen Möglichkeiten, um sich auszudrücken, sind folglich ebenfalls mangelhaft. So existieren etwa für die Geschlechtsteile vor allem negativ gefärbte und herabsetzende Worte. Oder man hat nur neutrale wissenschaftliche Begriffe zur Verfügung wie 'Vagina' oder 'Hoden', die von jedem Gefühlsausdruck entleert sind. Das gleiche gilt für die Begriffe, die den Geschlechtsverkehr beschreiben. Wenn hier die gängigsten genannt würden, so geriete (diese Zeitschrift) der "blickpunkt" höchstwahrscheinlich auf die Liste der "jugendgefährdenden Schriften", und wir hätten ein praktisches Beispiel für die gesellschaftliche Zensur. Diese verhältnismäßige Armut der uns verfügbaren Sprache, wenn es gilt, Sexuelles positiv und genau mitzuteilen, spiegelt die fortdauernde Unterdrückung wider und dient ihr zugleich.

 

Die Verwirrung des Denkens

Man muss sich wundern, dass die sexuellen Bedürfnisse der Individuen von der offiziellen Moral und ihren professionellen Wortführern so lange missachtet werden konnte, ohne dass sich ein nennenswerter Widerstand dagegen erhob. Verständlich wird dies erst, wenn man auch die anderen Methoden zur sexuellen Unterdrückung mit in Betracht zieht. Neben der gesetzlichen Verfolgung spielt vor allem die systematische Verwirrung des Denkens eine Rolle, die Ideologiebildung. Hierbei gibt es verschiedene Spielarten, um das Sexual-Tabu gegen Kritik abzusichern. (In einem späteren Artikel soll noch einmal ausführlich auf dieses Thema eingegangen werden, deshalb genügen hier einige Hinweise.)

Es lassen sich verschiedene Hauptformen ideologischer Unterdrückung der Sexualität unterscheiden:

•       Das Sexuelle wird als solches schlechtgemacht. Man spricht davon als der "Sünde", betrachtet das Körperliche als "tierisch" und "niedrig". Die sexuelle Lust ist nur eine unumgängliche Begleiterscheinung bei der Fortpflanzung und hat allein dieser zu dienen.

•       Das Sexuelle wird mystifiziert als das "große Geheimnis der Liebe", als etwas "Heiliges", als das "Wunder der Liebe". Rationales Denken oder gar Wissenschaft sei hier unangebracht.

•       Das Sexuelle wird heruntergespielt in seiner Bedeutung, es sei für den Menschen gar nicht so wichtig, es werde heute nur soviel Wind darum gemacht usw.

Sicherlich gibt es noch andere Formen der Ideologie, um die Individuen von ihrem Anspruch auf Freiheit der Gefühle und sexuelle Befriedigung abzubringen. Die Verbreitung solcher Ideologien ist für den Bestand einer Ordnung immer außerordentlich wichtig, denn wenn man das Denken der Menschen manipuliert, kommen sie gar nicht erst auf den Gedanken, gegen diese Ordnung zu rebellieren — und man spart Polizei.

 

Privatheit — Freiheit oder Elend?

Eine spezielle Form von Ideologie soll wegen ihrer Wichtigkeit hier noch einmal gesondert behandelt werden. Ich meine die Auffassung, dass die sexuellen Beziehungen nicht in die Öffentlichkeit gehören, dass sie intim bleiben müssen. Dem entspricht der Moralkodex unserer Gesellschaft, der das Tabu um so strenger durchsetzt, je mehr sich das Individuum in der Öffentlichkeit bewegt. So kann es einem passieren, dass man ein Lokal verlassen muss, weil man durch Küssen Anstoß erregt hat, während das gleiche Verhalten im privaten Kreis als völlig normal angesehen wird. Dahinter steht die Auffassung von der Intimität erotischer Beziehungen. Die Tendenz dieser Anschauung ist, das Austauschen von Zärtlichkeiten möglichst auf Situationen zu beschränken, wo die Liebenden allein sind. "Das geht doch niemanden etwas an", heißt es wie selbstverständlich. Man findet es "geschmacklos" oder "schamlos", in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten auszutauschen. Diese Beschränkung der Sexualität auf den verborgenen Intimbereich — tendenziell auf das eheliche Schlafzimmer — hat auf den ersten Blick einiges für sich, aber nur, weil eben in unserer sexualfeindlichen Ordnung die Öffentlichkeit eine Bedrohung und Gefährdung für die Beziehungen darstellen würde. Man wird ja tatsächlich gestört, allerdings gerade durch die selbsternannten Tugendwächter, die ihre sexuelle Verkorkstheit im Neid auf andere, vor allem auf "noch zu erziehende" Jugendliche, austoben. In Wirklichkeit steht hinter der Verbannung in die Intimsphäre die Absicht, die sexuellen Antriebe der Individuen — und hier wieder besonders der Jugendlichen — unter Kontrolle zu bekommen, indem man sie in der Öffentlichkeit nicht zulässt. (Die Jugendlichen haben eben im allgemeinen kein ungestörtes Schlafzimmer.)

Dass die private Intimsphäre nur eine Scheinfreiheit innerhalb einer immer noch lustfeindlichen Gesellschaft ist, merkt man spätestens dann, wenn die Zwänge der Umwelt sich schließlich doch auch bis in die traute Zweisamkeit hinein bemerkbar machen, wenn z. B. emotionale Störungen auftreten wie Impotenz oder quälende Eifersucht. Die "kleine Insel" ist innerhalb der "großen Welt" eben eine kleinbürgerliche Illusion. Es bleibt ein vergebliches Bemühen, sich seine eigene kleine Welt schaffen zu wollen, weil man von den allgemeinen Anschauungen über Gut und Böse, wie sie durch die" Nachbarn, die Arbeitskollegen oder das Fernsehen vertreten werden, und wie man sie durch eigene Erziehung verinnerlicht hat, weiterhin abhängig bleibt. Es ist eine falsch verstandene individuelle Freiheit, wenn sie. dazu führt, dass man etwa die allgemeinen moralischen Ordnungen, von denen man doch als einzelner abhängig bleibt, akzeptiert und sich auf einen privaten Freiheitsspielraum zurückzuziehen versucht. Denn wenn es einmal mit dem Partner nicht mehr klappt, ist man isoliert und hilflos. Da helfen auch die Sprüche von der Liebe als der "Schicksalsmacht" wenig, sie verklären nur die Ohnmacht und die Verletzlichkeit des Einzelnen in seinen sexuellen Beziehungen und lassen alles so, wie es ist. Wer nie über seine Probleme sprechen gelernt hat, nicht mit dem Partner und nicht mit anderen, wer immer nur der Umwelt das Ideal des "glücklichen Paares" vorgespielt hat, der wird spätestens dann merken, dass seine "ungestörte Privatsphäre" Isolierung und Abgeschnittensein von der Hilfe der anderen war, ohne doch den gesamtgesellschaftlichen Zwängen entkommen zu sein. Nicht umsonst ist die Ursache sehr vieler Selbstmorde Liebeskummer.

 

Falsche Freiheiten

1. Das Gegentabu des sexuellen Erfolges

Neben den oben geschilderten offen lustfeindlichen Normen der offiziellen Instanzen existieren in einer komplexen Gesellschaft wie der unsrigen immer auch inoffzielle Normen. Ein Beispiel dafür ist die bekannte "Doppelmoral" vieler Männer, für die "Seitensprünge" Kavaliersdelikte sind. Dieses Erfolgsideal herrscht meist auch in den Gruppen der Heranwachsenden: Hier wird hoch angesehen, wer sexuellen Erfolg hat -"der kann Frauen haben" -, wer möglichst viele Verabredungen hat, wer über Frauen und Liebestechniken Bescheid weiß, wer Witze reißen kann usw. Aber was nach Freiheit aussieht, stellt in vieler Hinsicht eine andere Form des Zwanges dar: Es entsteht eine Art Gegentabu, man wird ausgelacht, wenn man nicht so gut Bescheid weiß, wenn man Hemmungen hat, wenn man rot wird, wenn man Angst hat. Auch hier kann man von seinen wirklichen Problemen nicht sprechen, man ist gezwungen zu prahlen oder zu schweigen. Der Misserfolg spricht gegen einen selbst. Es gibt keine Solidarität, sondern nur Konkurrenz. Wer seine Schwächen zugibt, wird zum Gespött der anderen — die sie meist nur besser überspielen können. Damit entlarvt sich diese Moral der "wahren Männer" als eine Spielart der allgemeinen Unterdrückung. Sie ist keine Befreiung, sondern durch sie wird der einzelne jetzt von zwei Seiten terrorisiert, er steckt immer in der Zwickmühle.

 

Obszönität als Scheinfreiheit

Eng damit zusammen hängt die scheinbare Freiheit der "obszönen Bilder" und der "schmutzigen Witze". Zwar stellen sie eine Verletzung der offiziellen Tabus dar, trotzdem haben sie diese Moral meist nicht wirklich überwunden. Denn das Interessante an den Witzen ist häufig, dass sie eben "schmutzig" sind, dass also das Herabsetzende und Negative in ihnen noch enthalten ist. Man lacht häufig gerade über die Hilflosigkeit und Armseligkeit der Menschen bei dem Versuch, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Gegenüber diesen Momenten von Grausamkeit, Schadenfreude und Verachtung in den obszönen Darstellungen von Sexualität muss man hellhörig sein, wenn man mehr tun will, als sich nur ein Ventil zu schaffen für den allgemeinen Zwang. Die Herrenwitze spießbürgerlicher Stammtische oder Magazine waren immer nur die Kehrseite der offiziellen Prüderie, nie aber deren Bedrohung.

 

Das Sexualtabu — eine Form der Unterdrückung

Kommen wir zur kritischen Frage in der Einleitung zurück. Die Frage, ob die sexuellen Bedürfnisse der Individuen in dieser Ordnung entfaltet und befriedigt werden, muss verneint werden. Solange es Tabuisierung gibt, kann man nicht davon sprechen, dass sich die Individuen frei über ihre Bedürfnisse aufklären können. Durch das Tabu können sich die Individuen über ihre wahren Probleme nicht verständigen. Ihnen ist die Zunge gelähmt. Wenn die Verständigung der Menschen über ihre elementarsten Bedürfnisse in dieser Weise behindert ist, kann man von einer "freien Gesellschaft" noch nicht sprechen. Wer sich trotzdem zum Wortführer sexueller Bedürfnisse macht, dem kann es passieren, dass man ihn selber diffamiert, ihm unlautere Motive unterstellt oder als Pathologen bezeichnet. Das ist kein Wunder, solange die sexuellen Bedürfnisse als an sich schlecht und lasterhaft hingestellt werden, solange also das Glück der Individuen zynisch einem angeblich ewigen Sittengesetz zum Opfer gebracht wird. Wo das Tabu die Verständigung behindert, da kann es auch nur schwer eine gemeinsame Willensbildung und Solidarität geben. Im Gegenteil, nur zu leicht wendet sich der enttäuschte und unglückliche Einzelne neidisch und rivalisierend gegen den anderen, blickt missgünstig auf fremdes Glück. Dies ist die ideale Situation, um die Individuen innerhalb einer Ordnung bei der Stange zu halten, die ihren Bedürfnissen gar nicht entspricht. Solange ein System sich der Tabuisierung der ideologischen Manipulation und der Diffamierung von Bedürfnissen bedient, kann es nicht den Anspruch erheben, die Ordnung der in ihr Lebenden zu sein, also "demokratisch" in einem strengeren Sinne zu sein. Unsere Gesellschaft kann sich von ihrer politischen Verantwortung auch nicht dadurch freisprechen, dass sie die massenhaft auftretenden Konflikte wie familiäres Unglück, Kriminalität, Neurose, Selbstmord usw., von denen im letzten Artikel die Rede war, den Individuen selber zuschreibt und ihrer "schlechten Veranlagung". Gerade am Punkt der Sexualmoral gilt es, menschliche Freiheit radikaler und konkreter zu bestimmen.

 

Der praktische Kampf für befreite sexuelle Beziehungen

Neben dem Grundsatz der Kritik war in der Einleitung auch ein Prinzip der politischen Praxis formuliert worden, wie es sich in der Rebellion entwickelt hat: Die Kritik blieb so lange hilflos, wie sie sich nicht in das Handeln der Unterdrückten selber umsetzte. Diese Umsetzung der Kritik in Praxis gelang umso besser, je genauer die Kritik die tatsächlichen Bedürfnisse der Individuen zum Ausdruck brachte, denn wer seine Unterdrückung und Ausbeutung begreift, ist auch motiviert, für ihre Abschaffung zu kämpfen. Diese Artikelserie hätte also ihren Sinn erfüllt, wenn zwei Dinge erreicht würden: zum einen das Bewusstsein über die sexuelle Unterdrückung zu entwickeln und damit zugleich über die gesellschaftlichen Ursachen vieler persönlicher Schwierigkeiten; zum anderen eine praktische Anleitung zum kollektiven Kampf gegen diese Unterdrückung zu geben. Die Umgestaltung dieser Gesellschaft kann nicht das Werk irgendwelcher Spezialisten oder Berufspolitiker sein, sondern muss durch die Selbsttätigkeit der sich gemeinsam befreienden Individuen vollzogen werden. Wie der Kampf gegen das Sexualtabu im Einzelnen auszusehen hätte, kann hier nicht im voraus entwickelt werden. Trotzdem lassen sich einige Grundsätze durchdenken.

Die besondere Schwierigkeit im Kampf gegen die sexuelle Unterdrückung besteht darin, dass sie von den Individuen selber so stark verinnerlicht ist, d. h. dass der Ruf nach Freiheit hier auf starke Schuldgefühle stößt. Durch die lebenslange Manipulation ist es der Gesellschaft gelungen, die Unterdrückten zu ihren eigenen Aufpassern zu erziehen. Deshalb ist es auch so schwer, die eigentlich Verantwortlichen für die Aufrechterhaltung der sexuellen Unterdrückung zu finden, und deshalb gilt hier noch stärker als anderswo die Forderung, im Kampf um die Veränderung der Gesellschaft auch uns selber zu ändern und zu befreien. Auf diesen zwei Ebenen — dem Kampf gegen die politisch Verantwortlichen und der Anstrengung um die Veränderung unserer privaten Lebensverhältnisse — muss gemeinsam vorangegangen werden. Was heißt das im Einzelnen?

 

Der Kampf gegen die politisch Verantwortlichen

Täglich aufs Neue wird die sexuelle Unterdrückung praktiziert in den Gerichtssälen, den bischöflichen Kanzleien, den Kultusministerien, den Zensurbehörden für Film oder Presse, den Parlamenten, den Kirchen und den Klassenzimmern. Und dies geschieht ohne nennenswerten Widerstand. Empfängnisverhütung wird zur Sünde gegen Gottes Gebot erklärt, Filme werden zusammengeschnitten oder verboten, Zeitschriften werden als "jugendgefährdende Schriften" in ihrer Verbreitung behindert, die Liebe zwischen Unverheirateten wird als Unzucht und deren Unterstützung als Kuppelei verfolgt, freiwillige Sterilisation wird als Körperverletzung bestraft, Homosexualität nach dem § 175 behandelt, die gemeinsam verbrachte Nacht mit dem Verweis aus dem Wohnheim geahndet usw.

In all diesen Fällen wird es für die Betroffenen darauf ankommen, diese Unterdrückung nicht länger schuldbewusst hinzunehmen. Es bleibt weitgehend unserem Witz und unserem Mut überlassen, wie wir die jetzige sexuelle Unterdrückung entlarven und wie wir für eine freiere und befriedigendere Form der sexuellen Beziehungen kämpfen.

 

Die Veränderung unserer privaten Lebensverhältnisse

Jeder einzelne von uns hat das sexuelle Tabu unter dem Druck der Umwelt irgendwie in sich aufgenommen, und in seinem Umgang mit sich selbst und seiner Umwelt spiegelt sich die herrschende Moral noch wider. Aus dem Abschnitt über die falschen Freiheiten ist schon ersichtlich, in welcher Richtung unsere gemeinsame Selbsterziehung zu gehen hätte. In einigen Stichpunkten sollen hier die ersten Schritte zu einer Aufhebung des Sexualtabus angedeutet werden.


1.
Sprecht über eure Probleme. Lasst euch nicht einfangen vom herrschenden Prestige-Denken und vom Zwang zum sexuellen Erfolg. Unterwerft euch nicht den falschen Liebesidealen und spiegelt nach außen nicht das "Glück zu zweit" vor, wo es nicht vorhanden ist. Es ist keine Schande, eher ist es normal in unseren jetzigen Lebensverhältnissen, dass wir in unserer Fähigkeit zu einer befriedigenden und relativ eifersuchtsfreien Beziehung behindert sind. Eure Schwierigkeiten sprechen nicht gegen euch, sondern gegen die Umstände, in denen ihr aufgewachsen seid. Begreift eure Schwierigkeiten in ihren gesamtgesellschaftlichen Ursachen, aber schreibt sie nicht eurer "unglücklichen Veranlagung" zu.


2. Helft den anderen.
Lacht niemand aus, weil er noch Ängste und Hemmungen hat, die ihr schon überwunden habt. Seid vorsichtig mit moralischen Verurteilungen. Kritisiert den anderen nicht, ohne ihm zugleich die Gründe für sein falsches Verhalten genannt und ihm damit eine Chance zur Änderung gegeben zu haben. Sucht das Gespräch mit denjenigen, die mit ihren Problemen alleine nicht fertig werden. Gebt vor allem an die Jüngeren die Einsichten wieder, die ihr selbst viel zu spät bekommen habt. Messt das Verhalten von Mädchen und Jungen nicht mit zweierlei Maß. Spielt gegenüber Mädchen nicht die Rolle der falschen patriarchalischen Männlichkeit und Überlegenheit. Prahlt nicht mit euren erotischen Eroberungen und sexuellen Großtaten.


3. Durchbrecht den Bannkreis der Intimsphäre
. Tut nicht dasjenige heimlich, was ihr öffentlich rechtfertigen könnt. Seid zärtlich und liebevoll nicht nur zu eurem Partner, sondern auch zu den anderen. Der Zugang und die Befriedigung im Partner soll euch freier machen im Zugang zur übrigen Welt — und nicht diese ersetzen. Erweitert die Gesprächsthemen um diese "intimen" Dinge gegenüber den Eltern, den Geschwistern, den Schulkameraden und Arbeitskollegen. Kapselt euch in der Liebe nicht ab, sondern bezieht andere mit ein. Versucht das Konkurrenz- und Rivalitätsdenken abzubauen.

 

Dies soll kein neuer Katalog von Vorschriften sein, nach denen man sich nun zu richten hätte. Die Absicht, die dahinter steht, ist allein die, in unserem täglichen Umgang solche Formen einzuführen, die den einzelnen möglichst wenig unterdrücken und die uns die Chance geben, hier gemeinsam neue Formen zu entwickeln. Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir die alte Ordnung auch in uns selber überwinden, müssen wir auch uns selber verändern.

***


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Politologie als Emanzipationswissenschaft


(1968)

 --> Nachwort nach 39 Jahren

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der "Berliner Zeitschrift für Politologie. Hrsg am Otto Suhr-Institut, Freie Universität Berlin, 9. Jahrgang, Nr. 2, August 1968, S. 21-23



[S.21]
Die Auseinandersetzungen um den Wissenschaftsbegriff in den Sozialwissenschaften haben in der Vergangenheit unter dem hartnäckigen Missverständnis gelitten, dass man meinte, die Kritiker der analytischen Wissenschaftslogik griffen diese an, indem sie sich gegen Empirie, Logik und Quantifizierung überhaupt wandten.

So konnte der Eindruck entstehen, als handle es sich bei dieser Kritik um einen Rückfall in eine zweifelhafte und irrationale Philosophie.

Hinter der Konfrontation einer beidseitig unvereinbaren Begrifflichkeit schält sich heute jedoch immer deutlicher der eigentliche Gegensatz heraus. Dieser Gegensatz besteht darin, dass die einen wissenschaftliches Fragen und Denken auf faktische Zusammenhänge beschränken wollen, während die anderen die Faktenfragen nur im Zusammenhang mit normativen und praktischen Fragen sehen. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Angriff auf ein Verständnis von Wissenschaft, das gerade diese Fragen unberücksichtigt lässt und als "unwissenschaftlich" verbannen möchte und damit die empirische Forschung in einer Umgebung blinder Entscheidungen belässt.

Dass der Streit um den Wissenschaftsbegriff nicht nur im "Reich der Ideen" stattfindet, dass es hier nicht nur um die "Erkenntnis der Wahrheit" geht, kann hier nur angedeutet werden. Nicht zufällig ist diese Auseinandersetzung im ideologischen Bereich verbunden mit einer politischen Auseinandersetzung. Der philosophische Streit ist Teil eines realen Kampfes um die Umgestaltung der Gesellschaft. Da es den Kritikern bei dieser Umgestaltung nicht um die Effizienzsteigerung der bestehenden Institutionen geht, sondern um eine Neubestimmung der gesellschaftlichen Zielsetzung überhaupt, ist der auf die Feststellung empirischer Regelmäßigkeiten beschränkte Wissenschaftsbegriff ungenügend.

Eine solche Wissenschaft hatte sich als brauchbar erwiesen in der Kritik des Bürgertums an der metaphysisch begründeten feudalen und klerikalen Herrschaft sowie in der Steigerung der Produktion. In dem Augenblick jedoch, wo sich mit der Etablierung der bürgerlichen Ordnung "Wissenschaftlichkeit" zum ideologischen Hilfsmittel degradierte, um jeder Form von Gesellschaftskritik die Möglichkeit allgemeingültiger Vernunft abzusprechen und sie als prinzipiell gleichrangige subjektive Präferenz zu behandeln, in diesem Augenblick stand die Wissenschaft auf Seiten der bestehenden Ordnung, die sich nicht mehr hinterfragen, sondern nur in ihren "Sachzwängen", beschreiben und erklären lassen wollte.

Da sich die moderne Wissenschaftslogik, die hier unter dem Begriff "logischer Empirismus" zusammengefasst wird, in wesentlichen Punkten von den älteren Richtungen eines naiven Empirismus und Positivismus unterscheidet, soll dieser Unterschied hier noch einmal [S.22]kurz dargestellt werden; dies schon allein deswegen, um die Diskussion nicht in überholten Gegensätzen stecken zu lassen.

Der logische Empirismus bestimmt sich als Erkenntnistheorie von dem Ziel her, intersubjektiv überprüfbare Aussagen über die Realität zu gewinnen. Wesentliche Bedingungen dafür sind die logische Widerspruchsfreiheit der Hypothesen, die die Theorie bilden und die letztlich empirische Überprüfbarkeit der Aussagen. Dabei bleibt alle wissenschaftliche Erkenntnis hypothetisch, weil sie zukünftig falsifiziert werden kann (dazu K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1966).

Einige Klarstellungen über den logischen Empirismus erscheinen in Hinsicht auf die späteren Überlegungen angebracht:

1. Nach dieser Theorie liegen die faktischen Seins-Aussagen zwar auf einer anderen logischen Ebene als die normativen Sollensaussagen, aber mit der Notwendigkeit ihrer logischen Unterscheidung wird keineswegs die faktische Trennung dieser Dimensionen in der Realität behauptet.

2. Der logische Empirismus gibt allein die Methode an, um zu intersubjektiv überprüfbaren Aussagen über die faktische Realität zu kommen, zu möglichst irrtumsfreien Prognosen. Über die Möglichkeit anderer Fragestellungen und Aussagen sagt er nicht mehr, als dass sie mit seiner Methode nicht lösbar sind.

3. Er verbietet nicht die Aufstellung von Hypothesen, die nicht unmittelbar empirisch einlösbar sind. Er stellt mit seinen Kriterien nur einen Maßstab für den Grad der Überprüfbarkeit solcher Hypothesen dar. Es ergibt sich also aus ihm kein Denkverbot für Bereiche, die bisher empirisch nur schwer zugänglich sind, etwa gesamtgesellschaftliche und innerpsychische Theoriebildung.

4. Zwar lassen sich Theorien von normativen Aussagen freihalten, aber die wissenschaftliche Tätigkeit selber beinhaltet Entscheidungen und normative Elemente. Die Fragestellung selber bedeutet ein Werturteil, indem man die Aufdeckung eines bestimmten Zusammenhangs der Aufdeckung eines anderen vorzieht. Von dorther ist dann auch die Begriffsbildung bestimmt, weil z. B. für die Klärung des gewählten Zusammenhangs die begriffliche Unterscheidung auf einem bestimmten Abstraktionsniveau ausreichend ist. Es ist also jederzeit möglich, dass dabei begriffliche Unterscheidungen verloren gehen, die unter einem anderen Gesichtspunkt außerordentlich wichtig sein können.

Soweit die Darstellung eines reflektierten logischen Empirismus, die hier gegeben wurde, um die älteren positivistischen Richtungen von vornherein aus der Diskussion ausscheiden zu können. In den folgenden Überlegungen geht es nun nicht darum, diese Wissenschaftslogik als solche anzugreifen, sondern sie zu kritisieren, sofern sie in der isolierten Dimension der Fakten verbleibt und den Zusammenhang zur normativen und zur praktischen Sphäre nicht in den Zusammenhang ihrer Reflexion systematisch mit einbezieht.

Auch eine Wissenschaft, die sich auf intersubjektiv überprüfbare Faktenaussagen zu beschränken gedenkt, kann nämlich nicht verhindern, dass sie selber doch in einem gesellschaftlichen Wertzusammenhang existiert. Die Gesellschaft stellt selber ein normatives System dar, sie ist eine Ordnung, die Allgemeinverbindlichkeit beansprucht; sie verlangt von den Individuen Gehorsam gegenüber Gesetzen und anderen Normen und erzwingt ihn notfalls.

Nun wird sich keine Gesellschaft offen als gegründet auf bloße Gewalt zu erkennen geben, weil dann auch niemandem ein Vorwurf gemacht werden könnte, der diese Ordnung bekämpft. In einer Zeit, in der diese Legitimation nicht mehr auf Metaphysik beruhen kann, bedeutet dies, dass sich eine Ordnung allgemein anerkennbar begründet. Konkret für unsere Gesellschaft lautet die Begründung, dass die bestehenden Verhältnisse gerechtfertigt sind, weil sie aus dem Willen der Mehrheit der Bürger hervorgegangen sind. Es soll nun nicht die Demokratietheorie entfaltet werden, die hinter dem Satz vom Willen der Mehrheit steht, es soll nur darauf hingewiesen werden, dass das Prinzip der demokratischen Legitimation selber einmal begründet wurde, dass es bestimmte Ziele zu erreichen versprach und dass es bestimmte faktische Voraussetzungen seiner Gültigkeit gab. (z. B. J. St. Mill: On Liberty).

Hier wird nun der reale Zusammenhang zwischen der faktischen und der normativen Dimension in der Gesellschaft deutlich, dem sich auch die Wissenschaft nicht entziehen kann. In dem Augenblick, wo sie nachweist, dass die Voraussetzungen nicht gegeben sind, die eine Ordnung für ihre Legitimation angibt, in diesem Augenblick wird Wissenschaft von einem System zur Kritik faktischer Aussagen zu einem Instrument der Gesellschaftskritik. Oder aber sie verfehlt diese Aufgabe der Kritik, indem sie den Zusammenhang verdrängt bzw. sich dazu hergibt, die Brüchigkeit einer Legitimation zu verschleiern. So oder so muss sich jedoch auch eine "wertfreie" Wissenschaft gefallen lassen, politisch und moralisch bewertet zu werden.[S.23]

Erster Ansatzpunkt einer kritischen Wissenschaft muss heute also der Selbstanspruch einer Gesellschaft sein, mit dem sie ihre Ordnung begründet. Für die parlamentarische Demokratie führt das zu der Frage, ob im Rahmen der politischen Öffentlichkeit tatsächlich eine Aufklärung der Individuen über die Zusammenhänge und Möglichkeiten der Gesellschaft und über ihre eigenen Interessen stattfindet oder ob sich im politischen Willen der Individuen fremdbestimmte Motive unkontrolliert durchsetzen.

Es wäre also an jedem Punkt des politischen Willensbildungsprozesse die Frage nach seiner demokratischen Qualität zu stellen.

Neben der immanenten Kritik der Gesellschaft, deren Notwendigkeit auch die Herrschenden nicht guten Gewissens verweigern können, kann Wissenschaft jedoch auch kritisch werden von einem normativen Kriterium her, das die herrschende Legitimationstheorie noch übersteigt. Ein solcher Fall liegt heute vor, wo die traditionelle Bestimmung der Aufgaben des Staates sowie die unbefragte Hinnahme des Wählerwillens als letzter Instanz, wie sie die bürgerliche Demokratie kennzeichnet, durch das Faktum der verinnerlichten Herrschaft hinfällig geworden ist (dazu: Th. Adorno u. a.: "The Authoritarian Personality", 1950).

Das Prinzip der demokratischen Legitimation wird heute zunehmend radikaler und inhaltlicher gefasst, indem als anerkennbar nur eine Gesellschaftsordnung gilt, in der die Betroffenen die Verhältnisse nach ihren eigenen Bedürfnissen gestalten können. Erste Aufgabe einer in diesem Sinne kritischen und emanzipatorischen Wissenschaft wäre es, die Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der Individuen und der bestehenden Ordnung aufzudecken und die Mechanismen zu ihrer Verschleierung zu identifizieren, also die Faktoren zu bestimmen, die eine Aufklärung der Individuen über die Bedürfnisse verhindern.

Die Ideologie des freien Individuums ist vom Prozess seiner brutalen Vergesellschaftung her zu kritisieren. Indem die Wissenschaft Unwissenheit, Unmündigkeit und verinnerlichte Herrschaft nachweist, zerstört sie die Ideologie einer schon "freien Welt" und schafft die Grundlage für eine weitere Emanzipation der Gesellschaft.

Soweit die Darstellung des Zusammenhangs zwischen faktischer und normativer Dimension, der unentrinnbaren Verbindung von Erkenntnis und Rechtfertigung in der Gesellschaft und jedem einzelnen Individuum. Damit ist das Problem einer emanzipatorischen Wissenschaft jedoch noch nicht gelöst. Ein weiteres wichtiges Problem besteht in der Frage, wie die Kritik zu einer realen politischen Macht werden kann, wie sie sich in Entscheidungen und im Handeln wirkungsvoll umsetzt. Es muss also der Zusammenhang der faktischen und der normativen Dimension mit der praktischen Dimension in die Wissenschaft einbezogen werden, um nicht in einer hilflosen Kritik, in einem abstrakten moralischen Vorwurf stecken zu bleiben bzw. im bloßen empirischen Zweifel, der seine unausweichliche Konsequenz in der Veränderung der Welt nicht erkennt.

Der Vorwurf an die rein logisch-empirische Sozialwissenschaft ist dabei nicht, dass sie für die Gestaltung der Gesellschaft nicht praktisch brauchbar wäre, sondern dass sie diese Veränderung rein technisch betrachten muss und ohne den Zusammenhang mit einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik.

Die Frage nach der vernünftigen Praxis ist die Frage nach der Möglichkeit einer emanzipatorischen Veränderung der Welt. Sind die Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der Individuen und den bestehenden Verhältnissen aufgedeckt und die Mechanismen zur Verschleierung dieser Widersprüche erkannt, so sind diejenigen Faktoren und sozialen Gruppen zu identifizieren, die für die Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse verantwortlich sind.

Eine kritische Politologie hätte sich dabei weniger mit den gleichsam naturnotwendigen Entbehrungen und Unfreiheiten zu befassen, denn die Verbesserung der wissenschaftlichen Naturbeherrschung ist politisch nicht mehr kontrovers. Sie hätte ihr Interesse vielmehr dorthin zu lenken, wo soziale Gruppen die Aufrechterhaltung von Abhängigkeitsverhältnissen im eigenen Interesse betreiben. Es wären die Gruppen zu identifizieren, die eine vom Stand der Naturbeherrschung, d. h. von der Entwicklung der Produktivkräfte her mögliche Emanzipation aller Menschen verhindern.

Die Politologie hätte also die Interessenlage der sozialen Gruppen im Zusammenhang mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen offen zu legen, um den Individuen eine Aufklärung über ihre Lage und eine Orientierung ihres politischen Kampfes zu geben. Im eigentlichen Sinne praktisch wird eine Politologie, wenn sie auch die Wege für eine emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft zeigt. Das erfordert einmal die Bestimmung des möglichen Trägers dieser Veränderung. Dies müssen nicht die bestehenden politischen Institutionen sein, die ja vor allem ein Instrument der Herrschenden sind, sondern dies sollten diejenigen Gruppen sein, die als Unterprivilegierte und Unterrepräsentierte des Systems an ihrer eigenen Emanzipation interessiert sind.

Es stellt sich dann die Frage, wie diese Gruppen aus dem bloßen Erdulden ihrer miserablen Lage zu einem bewussten Kampf gegen diese Verhältnisse kommen können. Dazu bedarf es einer Analyse der Funktion, welche diese Gruppen für die Reproduktion des bestehenden Systems haben, welche Macht sie also entfalten können.

Soweit die Überlegungen zu einer kritischen und praktischen Sozialwissenschaft. Dies Ziel konnte hier nur skizzenhaft umrissen werden und verlangt weitere theoretische Arbeit. Der Versuch war, eine Politologie zu bestimmen, für die die Dimensionen des Erkennens, Bewertens und Entscheidens nicht isoliert sind. Erst eine solche zusammenhängende Vernünftigkeit reißt die individuelle Persönlichkeit nicht mehr arbeitsteilig auseinander. Diese unbegriffene Arbeitsteiligkeit ist jedoch die Bedingung für die Fortdauer der Herrschaft von Menschen über Menschen, einer Herrschaft, die erkauft wird mit der psychischen Desintegration und Repression der Individuen.


Nachwort nach 39 Jahren

Dieser Aufsatz wurde auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung 1968 geschrieben. Er gibt eine radikal-demokratische, nicht-marxistische Position innerhalb der Studentenbewegung wieder. Zu dem allermeisten in diesem Aufsatz stehe ich auch heute noch. Allerdings würde ich manches heute anders formulieren.

Das betrifft z. B. die Forderung, dass "die Betroffenen die Verhältnisse nach ihren eigenen Bedürfnissen gestalten sollen". Diese Forderung wurde häufig so verstanden, dass nur die in der jeweiligen Institutionen (wie Universitäten, Schulen, Betrieben, Heimen etc.) Beschäftigten und Lebenden als "Betroffene" angesehen wurden, nicht jedoch diejenigen Individuen und Organisationen außerhalb der Institution, für die die betreffende Institution Leistungen zu erbringen hatte. Das führte dazu, dass die Studentenbewegung in allen Bereichen und Institutionen  eine (räte)demokratische Selbstverwaltung durch die Mitglieder dieser Institutionen forderte - manchmal garniert mit problematischen halbernsten Parolen wie "Brecht dem Schütz die Gräten - Alle Macht den Räten!" (Klaus Schütz, SPD, war 1968 Regierender Bürgermeister in West-Berlin.)

Ein solch vereinfachtes Verständnis von demokratischer Entscheidung durch die Betroffenen geht an den arbeitsteiligen Verflechtungen und Verantwortlichkeiten einer modernen hoch differenzierten Gesellschaft völlig vorbei. So wird ein Produktionsbetrieb, der in der Form einer demokratischen Selbstverwaltung der in diesem Betrieb Arbeitenden organisiert ist, sicherlich die Interessen der dort Arbeitenden vertreten. Er wird seine Produktion jedoch wahrscheinlich nicht an der Nachfrage in der Gesellschaft orientieren, weil die Konsumenten in dem Selbstverwaltungsgremium nicht vertreten sind und folglich darauf auch keinen Einfluss nehmen können.

Auffällig ist, dass ich in dem Aufsatz - dem eine Rede zugrunde lag - nichts über das Verhältnis der geforderten rätedemokratischen Strukturen zum Grundgesetz und zum Parlamentarismus gesagt habe. Das war offenbar eine (problematische) Konzession an die entschieden außerparlamentarische Orientierung ("APO") der meisten Wortführer der Studentenbewegung und an die Einheit der Studentenbewegung.

Problematisch ist auch die Formel von der "Verschleierung der Widersprüche". Abgesehen von der Vagheit des Begriffs "(gesellschaftlicher) Widerspruch" ist auch der Begriff der "Verschleierung" problematisch, insofern als er eine manipulative Zauberkraft suggeriert, die die Köpfe vernebelt.

Im Aufsatz ist von der "brutalen Vergesellschaftung" der Individuen die Rede und von der "psychischen Desintegration und Repression der Individuen". In dieser undifferenzierten Allgemeinheit ist die darin enthaltene Gesellschaftskritik nicht zu belegen. Allerdings ist richtig, dass sich in Nachkriegs-Deutschland faschistoide Erziehungsmethoden und Denkstrukturen in weiten Bereichen ungebrochen fortsetzten. Ich habe selber meine schlimmen Erfahrungen damit gemacht, als ich 1949/50 als 6-jähriger wegen einer Tuberkulose für 14 Monate in das Niedersächsische Landeskinderkrankenhaus in Bad Sachsa im Südharz kam.

Wie ich erst sehr viel später zufällig entdeckte, war es derselbe idyllische Gebäudekomplex, in denen vor 1945 die Kinder von eingekerkerten und ermordeten Gegnern des Nazi-Regimes in "Sippenhaft" zusammengefasst und "erzogen" wurden. Offenbar hatte man das Personal 1945 nicht gründlich ausgewechselt und eine Oberschwester Hilde als Heimleiterin konnte noch 5 Jahre später ungehindert ihre autoritär-brutalen Erziehungsmethoden praktizieren.

Nicht zufällig entstammte ein großer Anteil der späteren RAF-Aktivisten dem Heidelberger "Sozialistischen Patienten-Kollektiv" und war psychisch schwer geschädigt.

***


Gegen die weitere Aushöhlung der Demokratie unter dem Vorwand des Verfassungsschutzes

(1975)

 

In der Bundesrepublik und West-Berlin findet gegenwärtig eine breit angelegte Aktion zur Eliminierung von bestimmten Personen aus dem öffentlichen Dienst bzw. zur Verhinderung ihrer Einstellung statt. Zehntausende von Personen werden von den Verfassungsschutz-Behörden überprüft, eine zunehmende Zahl findet keine Anstellung mehr oder wird aus der bisherigen Stellung entlassen.

Was wird diesen Personen vorgeworfen? Haben sie sich strafbar gemacht und gegen geltende Gesetze verstoßen? Sind sie fachlich ungeeignet für die betreffenden Berufe? Nichts dergleichen. Ihnen werden allein ihre politischen Ansichten vorgeworfen. Es heißt, dass sie "nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten". Das bedeutet, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gesinnung und ohne jeden Verstoß gegen rechtliche Vorschriften von denjenigen Berufen ausgeschlossen werden, für die sie allein ausgebildet sind. Welche Existenz bedrohende Härte eine solche Maßnahme für die Betroffenen darstellt, kann sich jeder leicht vorstellen.

Diese politischen Säuberungsaktionen finden in einem Land statt, das selber den Anspruch erhebt, eine demokratische Gesellschaft zu sein und in der die Prinzipien der Meinungs- und Gesinnungsfreiheit einen zentralen Platz einnehmen sollen. Aber dieser demokratische Anspruch ist in dem Maße unglaubwürdig, wie er nur noch dazu dient, Vorgängen in den an der Sowjetunion orientierten Ländern anzuprangern, wie z.B. die politischen Säuberungsaktionen in der CSSR nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts.

Beispielhaft für eine solche scheindemokratische Position sind Zeitungen oder Sender, die in großer Aufmachung und aller Ausführlichkeit über die Disziplinierung sowjetischer Intellektueller wie Solschenyzin durch die politische Polizei berichten, die jedoch entsprechenden Vorgängen der Unterdrückung von politischen Ansichten im eigenen Land keinen Raum in der Berichterstattung geben.

Demokratie wird dabei zur wohlklingenden Phrase in Sonntagsreden, die eine Gesellschaft ohne reale Meinungsfreiheit verhüllen sollen.

Die Verfolgung von Menschen wegen ihrer politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen hat - gerade in Deutschland - eine lange und traurige Tradition. Die Liste derjenigen, die wegen ihrer politischen Meinungsäußerungen ihre berufliche Existenz verloren haben, vor Gericht gestellt wurden, in die Emigration getrieben oder gar umgebracht wurden, ist endlos und umfasst einen Großteil derer, die heute zu den bedeutendsten Vertretern unserer kulturellen Tradition gerechnet werden.

Zu denken ist an Wissenschaftler wie Freud und Einstein, an Literaten wie Thomas Mann und Bertolt Brecht, an Sozialdemokraten wie Brandt und Wehner, an Sozialisten ohne Zahl sowie an Intellektuelle, deren Werke heute zum bürgerlichen Bildungsgut zählen wie Büchner und Heine.

Bei dieser Tradition ist es unbegreiflich, wenn heute Funktionäre der SPD und der Gewerkschaften an der Gesinnungsschnüffelei und an der "Säuberung" des öffentlichen Dienstes aktiv mitwirken. Anstatt vor allem der weiteren Aushöhlung der demokratischen Substanz des Grundgesetzes durch diejenigen entgegenzutreten, die Ostverträge, Hochschulreformgesetze, Fristenlösung oder Mitbestimmungsentwürfe für "verfassungswidrig" erklären wollen, beteiligt man sich an der Eliminierung derer, die sich für die "Abschaffung von Klassenherrschaft und Ausbeutung" und für "Revolutionierung der Eigentumsverhältnisse" aussprechen.

Heute schwingen sich Leute zu Gralshütern der Demokratie auf, deren geistige Ahnherrn und Vorbilder zu den eingefleischtesten Gegnern des allgemeinen gleichen Wahlrechts, der freien politischen Meinungsäußerung oder des Koalitionsrechts der Gewerkschaften gehörten. Diese demokratischen Rechte mussten erst unter schweren Opfern gegen konservative Kräfte erkämpft werden, die ohne weiteres damit einverstanden waren, dass nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht die Stimmen der Familie Krupp in Essen genauso viel Gewicht hatten wie die Stimmen von Zehntausenden von Krupp-Arbeitern.

Auch gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und die blutige Verfolgung von Sozialisten und Kommunisten leisteten die konservativen Kräfte - gelinde gesagt - keinen ernsthaften Widerstand.

Das erste Kabinett unter Hitler war eine Koalitionsregierung der Nationalsozialisten mit den Deutschnationalen unter Hugenberg, dem langjährigen Krupp-Direktor und Eigentümer eines großen Presse- und Film-Konzerns. Den Vizekanzler stellte von Papen, ein Politiker, der aus der katholischen Zentrumspartei kam. Das berüchtigte Ermächtigungsgesetz vom März 1933 wurde von Nationalsozialisten und Deutschnationalen gemeinsam eingebracht. Nur die SPD stimmte gegen dies Gesetz, das u. a. der Reichsregierung unter Hitler das Recht gab, von der Verfassung abweichende Gesetze zu erlassen. Alle Parteien rechts von der SPD stimmten diesem Gesetz zu. (Die KPD war bereits Februar 1933 durch eine Notverordnung des Präsidenten zur Abwehr "staatsgefährdender Gewaltakte" ausgeschaltet worden und konnte ihre Sitze im Reichstag nicht mehr einnehmen.)

Diese tatkräftige Mitarbeit der deutschnationalen, konservativen und katholischen Parteien an der "legalen" Aushöhlung der Weimarer Verfassung, die ja formell nicht abgeschafft wurde, sollte jeden demokratisch Denkenden zumindest wachsam machen: Zu oft wurde in der deutschen Geschichte unter dem Deckmantel staatlicher Legalität die Verfolgung Andersdenkender praktiziert.

Der gegenwärtige Versuch, mit dem Hinweis auf den Schutz der Demokratie Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung die berufliche Existenzgrundlage zu entziehen, muss besonders makaber wirken angesichts der Tatsache, dass in diesem Staat einflussreiche Ministerialbeamte, Offiziere, Richter, Professoren oder "Wirtschaftsführer" des nationalsozialistischen Regimes, die aktive Mitglieder der NSDAP waren, ohne Probleme wieder hohe und höchste Staatsämter einnehmen konnten. Nicht der Kommentator zu den Nürnberger Rassegesetzen Globke stellte als Staatssekretär im Bundeskanzleramt eine Gefahr für die Demokratie dar, sondern der Lehrer, der Mitglied der DKP ist. Nicht der Richter, der Todesurteile gegen Gegner des Nazi-Regimes gefällt hat, sondern der Gerichtsreferendar, der sich als Student für die sozialistische Revolution eingesetzt hat.

Ein grelles Licht auf diese Art von "Verfassungsschutz" wirft die Tatsache, dass der Organisator und langjährige Leiter des Bundesnachrichtendienstes, General Gehlen, bereits im nationalsozialistischen Geheimdienst eine hohe Funktion bekleidet hatte. In welchem politischen Lager solche Leute die "Staatsfeinde" gesehen haben, kann sich jeder an fünf Fingern abzählen. Nicht zufällig konnten sogar Offiziere der Bundeswehr hohe Funktionäre der NPD sein, ohne deswegen als eine Gefährdung der Demokratie angesehen zu werden und aus dem öffentlichen Dienst entlassen zu werden.

Wer meinte, dass die Konservativen von heute doch durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus gelernt hätten und dass von ihnen heute keine Gefahr für die Demokratie mehr drohe, der wird durch einige Ereignisse der neueren Zeit hellhörig geworden sein. Schon immer musste es eigentlich paradox erscheinen, dass die NATO als militärischer Pakt zur Verteidigung von Demokratie und politischer Freiheit jahrelang Bündnispartner wie Portugal oder Griechenland umfasste, die sich gerade durch eine grausame Unterdrückung von Demokratie und Freiheit auszeichneten, die durch blutige Kolonialkriege oder Gefängnisinseln für politische Gegner traurige Berühmtheit erlangten.

Kann man sich an Proteste der CDU erinnern, als der erwartete Wahlsieg des linksgerichteten Politikers Papandreou durch den Militärputsch in Griechenland gerade noch vereitelt wurde? Hatte man nicht über Jahrzehnte ein recht gutes Verhältnis zur portugiesischen Diktatur? Wie war es in Chile, als eine mehr als hundertjährige demokratische Tradition mit der Bombardierung des Präsidentenpalastes ein blutiges Ende fand? Hieß es da nicht, die "Ordnung" hätte wieder hergestellt werden müssen? Hatte man nicht zum demokratisch gewählten Allende ein schlechteres Verhältnis als zum General Pinochet, dem Hauptverantwortlichen für tausendfachen Mord und Folter an politischen Gegnern? Verweigerte man nicht einer Auslandshilfe zur Zeit der Regierung Allende die Zustimmung, weil die chilenische Regierung eine Bodenreform zugunsten landloser Arbeiter durchführte, die u.a. auch zur Enteignung ausländischer Großgrundbesitzer wie dem Multimillionär Schickedanz ("Quelle") führte? Forderte nicht der CDU-Vertreter Todenhöfer nach Besuchen bei Pinochet nachdrücklich die Auszahlung der Kredite an das neue bajonettgestützte Regime?

Wer diese Politik genauer beobachtet und aus den geschichtlichen Erfahrungen seine Lehren zieht, der wird den Verdacht nicht los, dass diejenigen, die heute am lautesten nach dem Kampf gegen die Feinde der Demokratie rufen, auch diejenigen sind, die die Demokratie sofort dann fallen lassen, wenn einmal auf demokratischem Wege ihre Interessen, die Kapitalinteressen einer Minderheit von Konzernchefs, Multimillionären und Großgrundbesitzern gefährdet werden. Immer wenn das Kapitaleigentum in Gefahr war, war seinen politischen Vertretern jedes Mittel recht, vom Militärputsch (Chile, Griechenland) bis zum Bürgerkrieg (Spanien), von der Wirtschaftsblockade (Kuba) bis zur militärischen Invasion (Sowjetunion).

Wer wäre so naiv anzunehmen, dass diese Kreise kampflos ihre Verfügungsgewalt über die gewaltigen Reichtümer und Machtmittel aufgeben würden, nur weil sie gute Demokraten sind und sich dem Mehrheitswillen zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel beugen?

Die Vermutung, dass den konservativen Kräften privater Kapitalbesitz heiliger ist als die politische Demokratie, wird noch erhärtet durch den ständigen Versuch, kapitalistische Wirtschaftsordnung und politische Demokratie gleichzusetzen, z.B. durch den Begriff "freiheitliche Gesellschaftsordnung". So hat der CDU-Vorsitzende Kohl erst kürzlich wieder versucht, den Kapitalismus zum Bestandteil der Verfassung zu erklären und damit den Prozess der Aushöhlung der politischen Demokratie voranzutreiben. Die Wirtschaftsordnung, die für alle Menschen elementare Bedeutung besitzt, weil von ihr die Lebens- und Arbeitsbedingungen vor allem abhängen, soll dem Bereich der demokratischen Willensbildung entzogen werden und in der Verfassung festgeschrieben werden. Und leider ist es nicht sicher, ob sich nicht eine Mehrheit der CDU-nahen Verfassungsrichter finden würde, die gesetzliche Maßnahmen zur Vergesellschaftung der Industrievermögen und zur Planung des Wirtschaftsprozesses für verfassungswidrig erklären würden, falls eine Mehrheit der Wähler nicht mehr bereit ist, die krassen Vermögens- und Einkommensunterschiede, die ungleiche Verteilung der Arbeitslasten und die Krisenbewältigung durch Massenentlassungen und Kaufkraftverluste als unabwendbares Schicksal hinzunehmen.

Da die Sozialisten eine Gesellschaft anstreben, in der es der Mehrheit der Menschen besser geht als im Kapitalismus, brauchen sie den aufgeklärten Willen der Mehrheit und das allgemeine Wahlrecht nicht zu fürchten. Im Gegenteil, was sie fürchten müssen sind die Panzer und Bajonette, die im Ernstfall gegen die demokratische Enteignung der kleinen Minderheit von Kapitaleigentümern mobilisierbar wären, wie z.B. in Chile.

Da es den Sozialisten darum geht, dass alle Menschen sich aufgrund von Information und eigener Überlegung über ihre wirkliche Interessenlage aufklären, brauchen sie die freie Diskussion und Information in Versammlungen, Presse, Rundfunk und Fernsehen nicht zu fürchten, im Gegenteil. Was sie fürchten müssen ist die ständige Verfälschung und Unterdrückung von Nachrichten und Zusammenhängen und die Verteufelung von Gegnern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch Massenmedien, die sich direkt im Privatbesitz von Kapitalisten wie Springer befinden oder aber wirtschaftlich und politisch von deren Wohlwollen abhängig sind.

Da die Sozialisten eine Gesellschaft anstreben, in der die Regierungspolitik dem aufgeklärten Willen der Mehrheit unterworfen bleibt, brauchen sie das Prinzip unabhängiger Gerichte nicht zu fürchten, die als selbständige Gewalt jedermann - auch die Regierung - an die demokratisch beschlossenen Verfassungs- und Gesetzesnormen bindet. Was sie dagegen fürchten müssen sind Richter und Justizorgane, die wie in der Weimarer Republik im Namen von Verfassung und Recht Sozialisten diskriminieren und verfolgen und mit dem Argument des Staatsschutzes selber tatkräftig an der Aushöhlung der demokratischen Substanz der Verfassung mitwirken.

Da die Sozialisten nicht an die Unfehlbarkeit irgendwelcher politischen Eliten glauben und da sie wissen, dass der Sozialismus nicht durch die Dekrete einer diktatorisch regierenden Partei oder Clique entstehen kann sondern nur Ergebnis des freien demokratischen Willensbildungsprozesses aller sein kann, brauchen sie die Institutionalisierung des Rechtes auf Kritik und Opposition und eine Pluralität von Meinungen nicht zu fürchten. Im Gegenteil, was sie fürchten müssen ist eine wirtschaftliche Erpressung wie in Chile, wo Fuhrunternehmer ihren Privatbesitz an den lebensnotwendigen Versorgungseinrichtungen der Gesellschaft in einem wochenlangen Boykott als Waffe gegen eine demokratisch gewählte sozialistische Regierung einsetzten. Sie müssen die Agenten ausländischer Konzerne wie ITT fürchten, die riesige Geldsummen einsetzten zur Unterstützung solcher Boykotte, zur Finanzierung der Wahlkämpfe kapitalfreundlicher Parteien und für die Bezahlung von bewaffneten Terrororganisationen.

Wenn die Sozialisten für sich die Freiheit der politischen Meinungsäußerung und die Aufhebung von Maßnahmen fordern, die die berufliche Existenz von Menschen aufgrund ihrer politischen Anschauungen vernichtet, so fordern sie damit nur die Einhaltung der einfachsten und grundlegendsten Prinzipien einer Demokratie. Denn ohne eine Freiheit der politischen Meinungsäußerung wird jede Wahl zur Farce und verliert ihre demokratische Legitimation.

Wo im Namen der Demokratie eine politische Richtung mundtot gemacht werden soll, hebt sich die Demokratie selber auf. Wir fordern deshalb alle wirklichen Demokraten gleich welcher politischen Richtung auf, als Demokraten gegen Gesinnungsterror und politische Diskriminierung aufzutreten und die Demokratie vor ihren falschen Freunden zu schützen, die in Deutschland schon einmal ihren Ruin herbeigeführt haben.


***

Das Folgende ist ein Redebeitrag auf dem "Kongress gegen politische Unterdrückung" 1972 in West-Berlin.

 

Zur Diskussion des "Mandel-Falls"

(1972)


Die sozialistische Bewegung in der BRD und West-Berlin kommt im Augenblick an einen kritischen Punkt. Es wurden in den letzten Jahren Teilerfolge in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen errungen. Dazu gehören die Universitäten, Schulen aber auch Ansätze im betrieblichen und gewerkschaftlichen Bereich. Diese Teilerfolge haben jedoch dazu geführt, dass die pro-kapitalistischen Kräfte in zunehmendem Maße nervöser wurden und immer lautstärker eine Bekämpfung der sozialistischen "Unterwanderung" forderten. Diese Kräfte haben sich gegenwärtig in der Politik wieder so weit durchgesetzt, dass zu offenen Maßnahmen gegen die sozialistischen Kräfte gegriffen wurde, und zwar durch Berufsverbote bzw. Nichteinstellung von Sozialisten in den betreffenden Bereichen Schule und Hochschule.

Diese Maßnahmen wurden begründet mit dem Hinweis auf die mangelnde Verfassungstreue der Eliminierten. So hieß es bei Ernest Mandel, seine politischen Ziele - insbesondere die Rätedemokratie - seien mit der Verfassung nicht vereinbar. In dem Augenblick jedoch, wo die Verfassungsfeindlichkeit bestimmter politischer Richtungen eine ausgemachte Sache ist, ist das Verbot der entsprechen Gruppierung und die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung der beteiligten Personen nur noch eine logische Konsequenz.

Diese Erfahrungen wurden im Zuge des KPD-Verbots und der in den Jahren darauf folgenden Kommunistenprozesse bereits einmal in der BRD gemacht. Auf einen solchen kritischen Punkt steuern die Sozialisten in der BRD und WB heute wiederum zu, indem sie zu Verfassungsfeinden gestempelt werden. Kritisch ist diese Situation vor allem auch deswegen, weil man die Linke in einem Moment zu treffen beabsichtigt, wo sie gerade erst anfängt, ihre gesellschaftliche Isolierung und ihre Beschränkung auf den Hochschulbereich zu überwinden, d.h. wo sie zu einer Abwehr dieser Gefahr fast keine relevanten gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren kann. Eine Illegalisierung der Sozialisten und eine anschließende Beseitigung ihres Einflusses ist also eine reale Gefahr, dies hat das KPD-Verbot, das Verbot des Heidelberger SDS oder auch das Beispiel der "Gauche Proletarienne" in Frankreich gezeigt.

Eine erste Schlussfolgerung muss daher lauten, dass sich die Sozialisten unter keinen Umständen in die verfassungsfeindliche Ecke drängen lassen dürfen, wenn sie nicht wollen, dass ihr politischer Aktionsraum auf das Minimum des illegalen politischen Untergrunds mit seinen notwendig zu erwartenden Opfern beschränkt werden soll. (Die negativen Folgen können gegenwärtig am Beispiel von Organisationen wie der RAF beobachtet werden.)

Nun mag mancher entgegnen, der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit sei sowieso zu erwarten und eine Diskussion um diesen Punkt sei überflüssiger juristischer Formelkram. Schließlich gehöre es zu den politischen Grunderkenntnissen jedes Sozialisten, dass der Staat - und damit auch die staatliche Verfassung - von der herrschenden Klasse in ihrem Sinne genutzt wird, d.h. dass in einer kapitalistischen Gesellschaft die Verfassung gegen Sozialisten gekehrt wird. Auslegung und Anwendung der Verfassung sei keine Frage des Rechtes sondern der Herrschaftsverhältnisse. Der gegenwärtige Konflikt sei Teil der Klassenauseinandersetzung und damit eine Frage der Macht und nicht des Rechts.

Diese Argumentation und Einstellung, die ich eben skizziert habe und die sich realistisch und illusionslos gibt, ist in meinen Augen jedoch trotz ihrer gewissen Berechtigung der realen Situation nicht angemessen und könnte die eigenen Aktivitäten eher lähmen als verstärken, und zwar aus folgenden Gründen:

Erstens ist eine derartige Reduzierung der politischen Auseinandersetzung auf eine reine Machtfrage in der gegenwärtigen Situation geradezu selbstmörderisch. Wenn man einmal die existierenden Machtverhältnisse in diesem Staat betrachtet, so würde bei einem wirklichen Machtkampf unter Einsatz aller verfügbaren Mittel von den Sozialisten wohl kaum etwas übrig bleiben. Dieser leicht einzusehende Tatbestand macht deutlich, dass es von der oben skizzierten militanten Haltung bis zu einer resignativen Haltung der politischen Hoffnungslosigkeit kein allzu großer Schritt ist und die Gefahr eines "Umkippens" immer gegeben ist.

Zum andern ist die Gleichung "Kapitalistische Gesellschaft also kapitalistisches Recht" gerade insofern kurzschlüssig, als ja Verfassungen tatsächlich nicht von irgendeiner höheren Gerechtigkeit verordnet sind, sondern Produkte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe darstellen. Das heißt aber auch, dass die jeweilige Verfassung auch die Fixierung eines bestimmten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses darstellt und dass sich in den rechtlichen Formen einer kapitalistischen Gesellschaft deshalb auch die relative Stärke der sozialistischen Kräfte niederschlagen muss. Dies gilt nun insbesondere für die Verfassung der BRD, die in einer Phase entstand, als sich Kapitalbesitz und politische Rechtskräfte erst allmählich von der totalen Niederlage des "3. Reiches" erholten. Dies drückt sich z.B. darin aus, dass aus dem Grundgesetz kein Verbot einer Aufhebung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln abgeleitet werden kann.

Ich will auf die Einzelheiten hier nicht näher eingehen, sondern will nur festhalten, dass in dem Augenblick, wo von den Sozialisten nicht mehr um die Ebene der Verfassungsmäßigkeit gekämpft und argumentiert wird, damit auch die historisch einmal errungenen Positionen freiwillig geräumt werden und den Vertretern der Kapitalinteressen ein noch größerer Spielraum beim Einsatz der Verfassung in ihrem Sinne gegeben wird. Dort, wo in der Verfassung für die politische Willkür der Kapitalinteressen Grenzen formuliert sind, müssen die Sozialisten auf einer Einhaltung dieser Grenzen bestehen. Mit den Hamburger Beschlüssen und den Einstellungsverboten in Berlin ist diese Grenze jedoch überschritten.

Zum zweiten: Wenn die Sozialisten die gegenwärtige Auseinandersetzung nur in den Begriffen einer Machtauseinandersetzung beschreiben, so kann damit vielleicht die Funktion der Selbstverständigung unter Sozialisten erfüllt werden. Damit liefert man aber noch keine Argumentation für jemanden, der noch kein Sozialist ist. Dessen Kritik kann nur geweckt werden, wenn ihm deutlich gemacht wird, dass die kapitalistischen Kräfte unter Missbrauch der Verfassung versuchen, den Kampf um die Wirtschaftsordnung in ihrem Sinne zu entscheiden, obwohl gerade die Wirtschaftsordnung durch die Verfassung nicht festgelegt wurde.

Um diejenigen aufzuklären und zu gewinnen, die sich in der jetzigen Auseinandersetzung passiv verhalten oder die gar in Verkennung ihrer eigenen Interessen der Diskriminierung von Sozialisten zustimmen, ist die Ebene der verfassungsmäßig garantierten Rechte für die Vertretung der eigenen politischen Vorstellungen wichtig.

Allerdings muss sie mit einer anderen Argumentationsebene verbunden werden. So wichtig der Kampf gegen eine antisozialistische Verengung der Grundgesetzinterpretation auch ist, so darf sich die Argumentation keinesfalls im juristischen Streit um die Auslegung von Verfassungsnormen erschöpfen. Zugleich muss in die Diskussion der gesamte theoretische Hintergrund mit einbezogen werden, das gesamte System der theoretischen Rechtfertigungen und Begründungen, wodurch sich überhaupt erst die Anerkennbarkeit des im Grundgesetz formulierten "demokratischen und sozialen Rechtsstaats" ausdrückt. Das bedeutet, dass die Verfassungsauslegung mit dem Ziel, die Illegalisierung sozialistischer Organisationen zu verhindern, durch eine Auseinandersetzung um das zugrundeliegende Demokratieverständnis ergänzt werden muss.

Ein unterentwickeltes demokratisches Bewusstsein auch bei der Mehrheit der Lohnabhängigen war eine Bedingung dafür, dass in den 50er Jahren das Bundesverfassungsgericht mit teilweise reaktionärsten Begründungen die KPD verbieten konnte, ohne dass es zu nennenswerten Erschütterungen der bundesrepublikanischen Ordnung kam. Die Stoßrichtung der Argumentation muss hier von Anfang an offensiv sein: Nicht die Sozialisten sind die Gegner einer demokratischen Bestimmung der Individuen über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, sondern die Kapitalbesitzer und ihre politischen Vertreter, die den Reproduktionszwang der Individuen zum Aufkauf und zur Ausbeutung ihrer Arbeitskraft benutzen können, und die damit ihre ökonomische und politische Macht immer weiter ausbauen.

Nicht die Sozialisten verfälschen den Grundsatz, dass alle Gewalt vom Volke ausgehen soll. sondern die Kapitalbesitzer und ihre Vertreter, die fortlaufend die größte Propagandamaschine der Geschichte nach den modernsten Erkenntnissen der Massenbeeinflussung einsetzen, um gerade zu verhindern, dass sich der Wille des Volkes aufklären, artikulieren und durchsetzen kann.

Wenn etwa die BILD-Zeitung die Sozialisten als "Feinde der Freiheit" abstempeln will, für die es keine Freiheit geben dürfe, so kann es für Sozialisten nur lauten, dass wir allerdings jene kapitalistische Karikatur von Freiheit bekämpfen, die darin besteht, dass eine kleine Schicht die "Freiheit" hat, ohne die geringste eigene Arbeitsleistung sich den Löwenanteil der Arbeitsprodukte anzueignen. Die Kapitalbesitzer und ihre Interessenvertreter sind heute dabei, das Etikett von der "freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung" wieder aufzupolieren, das seit der Kritik durch die antiautoritäre und sozialistische Studentenbewegung ziemlich lädiert worden war.

Aber genau das muss verhindert werden, dass nach dem Muster solcher Augenwischerei die eigentliche Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus in völlig verdrehter Form als Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur erscheint, wobei sinniger Weise das Kapital als Gralshüter demokratischer Prinzipien auftritt und den Sozialisten der Part der bürgerkriegs- und diktaturlüsternen Fanatiker zugewiesen wird. Wenn es nicht gelingt, die erneute Mobilisierung dieses Denkschemas bei der Masse der Lohnabhängigen zu verhindern, so werden die Linken in Deutschland auch in den kommenden Auseinandersetzungen hoffnungslos unterlegen sein.

Dies sollten auch diejenigen Genossen bedenken, die - vorsichtig gesprochen - die "Stalinfrage" noch nicht aufgearbeitet haben und die ungerührt von allen historischen Erfahrungen sich den politischen Willensbildungsprozess in der nach-revolutionären Gesellschaft nach dem Muster vorstellen, dass ihre Partei, die sie "Partei der Arbeiterklasse" nennen, entscheidet und dass diese Partei deshalb das alleinige Recht zur Entscheidung besitzt, weil sie eben die Partei der Arbeiterklasse ist. Dass bei diesem Verfahren der demokratische Willensbildungsprozess in der Arbeiterklasse völlig überflüssig ist, ist unmittelbar einleuchtend. Aber dies nur am Rande. Die Auseinandersetzung über diese Fragen sollten an anderer Stelle weitergeführt werden, da es hier um den Kampf gegen die politische Unterdrückung von Sozialisten im kapitalistischen System geht.

Festzuhalten bleibt, dass es außerordentlich wichtig ist, in der ideologischen Auseinandersetzung, wie sie an den verschiedensten Fronten in der Gesellschaft geführt wird, die reaktionäre und autoritär verfügte Interpretation von Demokratie in die Defensive zu drängen und einen Begriff von demokratischer Entscheidung herauszuarbeiten, dessen Grundlage der aufgeklärte Wille der jeweils Betroffenen ist und der auch vor dem ökonomischen Entscheidungsbereich nicht Halt macht.

Auf die jetzige Situation angewandt folgt aus dem Gesagten, dass wir den Versuch, die Verbreitung sozialistischer Positionen mit administrativen und tendenziell polizeilich-juristischen Maßnahmen zu verhindern, jeweils gegen ihre Urheber wenden, indem wir an diesen Fällen nachweisen, wie heuchlerisch die demokratische Legitimation ist.

Wenn es uns gelingt, in der politischen Auseinandersetzung für jedermann sichtbar herauszuarbeiten, wie hier eine Minderheitsmeinung politisch unterdrückt wird - aus der berechtigten Furcht heraus, sie könnte eines Tages zur Mehrheitsmeinung werden - dann haben wir der kapitalistischer Herrschaft langfristig einen schwereren Schlag zugefügt, als es jede kurzfristige inneruniversitäre Empörung könnte. Denn ohne den schützenden Schleier des demokratischen Selbstverständnisses wäre das kapitalistische Wirtschaftssystem der westdeutschen Gesellschaft wohl kaum vor den Augen der Masse der Lohnabhängigen zu rechtfertigen.

Im Vorangegangenen habe ich versucht, die Notwendigkeit von zwei Argumentationsebenen herauszuarbeiten, der verfassungsrechtlichen und der demokratietheoretischen. Diese Argumentationsebenen sind wichtig, weil dies die Ebenen sind, in denen der gegenwärtige Angriff auf uns vor allem vorgetragen wird und die unmittelbar die Gefahr der Illegalisierung der Sozialisten nach sich ziehen können. Das Problem bei dieser Argumentation ist jedoch, dass damit zwar die in der Öffentlichkeit herrschende Legitimationsstruktur für diese Gesellschaft in ihrem offiziellen Selbstverständnis, nämlich als einer rechtsstaatlichen und demokratischen Gesellschaft, getroffen wird, aber andererseits kann durch diese Argumentation gerade die Arbeiterschaft nur schwer erreicht werden, weil in ihr verständlicherweise eine große Distanz zu dem Bereich besteht, den sie als offiziell Politischen erlebt.

Sowohl Auseinandersetzungen um Verfassungsgrundsätze als auch um die Lehr- und Lernfreiheit für Sozialisten liegen in der jetzigen Situation noch weitgehend außerhalb der sie vital bewegenden Ereignisse und Interessen. Bei der großen Masse der gegenüber einem Konfliktfall wie der Mandel-Ablehnung weitgehend indifferenten Lohnabhängigen wird es deshalb nicht genügen, auf den verfassungsmäßigen politischen Rechten auch für Sozialisten zu bestehen und an sie als Demokraten zu appellieren, sondern hier stehen wir vor der heute kaum lösbaren Aufgabe, eine Verbindung herzustellen zwischen der Ablehnung eines sozialistischen Lehrers oder Dozenten mit ihren Interessen als Lohnabhängige.

Eine Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die sozialistischen Intellektuellen Arbeitern und Angestellten tatsächlich als Sachwalter ihrer Interessen wahrgenommen werden, d.h. als jemand, der von ihren Problemen ausgeht und sie im Kampf um die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen unterstützt. Von einer solchen Verbindung zwischen sozialistischen Intellektuellen und der Masse der Lohnabhängigen sind wir heute noch weit entfernt.

Eine entscheidende Bedingung dafür, dass diese Isolierung durchbrochen wird, ist jedoch das begründete Vertrauen der Arbeiter und Angestellten, dass die sozialistischen Intellektuellen von heute nicht die Bürokraten und Autokraten von morgen sind.

Um mit einem Satz von Rosa Luxemburg zu schließen: "Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllen stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit - nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen."


***

 

Marxistische Staatstheorie und politische Demokratie

 

(1976)


Inhalt:

Das Ausgangsproblem
Die klassentheoretische Erklärung des Entstehens politischer Demokratie
Die "kapitallogische" Erklärung der Entstehung politischer Demokratie
Die Bewertung politischer Demokratie in der marxistischen Staatstheorie


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Das Ausgangsproblem

Wenn man die Stellungnahmen verschiedener in der marxistischen Tradition stehender Autoren zur politischen Demokratie betrachtet (worunter im Folgenden ein politisches System verstanden werden soll, in dem gesetzgebende Körperschaft und Regierung aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehen bei gleichzeitiger Koalitions- und Meinungsfreiheit), so fällt sofort eine eigenartige Ambivalenz ins Auge: einerseits gibt es Positionen, die ein solches System politischer Willensbildung als bloß "formal", oder auch "bürgerlich", abqualifizieren, aber andererseits gibt es auch Positionen, die in der politischen Demokratie eine historische Errungenschaft sehen, ohne die kein wirklicher Sozialismus denkbar ist.

Exemplarisch werden diese zum Teil diametral entgegen gesetzten Auffassungen etwa bei Einschätzungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik. (Siehe dazu und zum Folgenden: Thomas Blanke: Das Dilemma der verfassungspolitischen Diskussion der Linken in der Bundesrepublik, in: Rottleuthner, Hubert, Hrsg., Probleme der marxistischen Rechtstheorie, Frankfurt a. M. Suhrkamp 1975, S. 419-483. Hier findet sich eine zusammenfassende Erörterung des Diskussionsstandes.)

Diese Ambivalenz wirkt sich auch in konkreten politischen Auseinandersetzungen aus. So stellt sich in Bezug auf den Kampf gegen Berufsverbote die Frage: Ist man gegen die Berufsverbote, weil man Demokrat ist und sich gegen jede Verfolgung politischer Meinungen durch die staatliche Exekutive wendet, oder ist man deswegen dagegen, weil die eigene politische Bewegung davon betroffen ist, und beruft man sich auf die verfassungsmäßig garantierten demokratischen Prinzipien nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit?

Es ist zu vermuten, dass diese Ambivalenz gegenüber der politischen Demokratie nicht bloß zufällig ist, sondern mit bestimmten Grundzügen der marxistischen Theorie überhaupt zusammenhängt. lm Folgenden sollen einige zentrale Theorieelemente auf ihre rechts- und demokratietheoretischen Implikationen hin analysiert werden, um zu einer größeren Klarheit über die grundsätzlichen Probleme zu gelangen.

Maßgebend für die Stellung der marxistischen Theorie zu den Phänomenen "Staat", "Recht" und "politische Demokratie" ist ihr Selbstverständnis als materialistische Theorie. Kernsätze wie der, dass das "gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt" oder dass die "ökonomische Basis den Überbau wie Religion, Staat, Recht, Moral usw. bestimmt", sind der gemeinsame Ausgangspunkt für alle marxistischen Theorieansätze.

Diese materialistischen Theoreme sind jedoch keineswegs so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen, denn sie lassen sich auf die verschiedenste Weise interpretieren, je nachdem wie man "gesellschaftliches Sein" und "Bewusstsein" definiert und wie man die Art der Abhängigkeit zwischen beiden bestimmt.

Im Folgenden soll nun für zwei häufig zu findende Interpretationen des Basis-Überbau-Verhältnisses, die klassentheoretische und die kapitallogische, gefragt werden, wie sich mit ihrer Hilfe die Existenz politischer Demokratie einerseits erklären und andererseits rechtfertigen lässt.

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Die klassentheoretische Erklärung des Entstehens politischer Demokratie

Die klassentheoretische Interpretation des Basis-Überbau-Verhältnisses findet sich praktisch bei allen marxistischen Ansätzen. Danach bestimmen sich die Gesellschaftsklassen durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu den Produktionsmitteln und durch die unterschiedliche Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts. Diejenige Klasse, in deren Besitz sich die Produktionsmittel befinden und die sich das Mehrprodukt aneignet, ist definitionsgemäß die ökonomisch herrschende Klasse.

Die Theorie besagt nun, dass die ökonomisch herrschende Klasse zugleich auch die politisch herrschende Klasse ist: Staat und Recht sind dabei Instrumente ihrer Klassenherrschaft.

Für eine derartige klassentheoretische Interpretation, die den Staat als Unterdrückungsinstrument der jeweils ökonomisch herrschenden Klassen ansieht, ergeben sich aus der Existenz demokratisch verfasster kapitalistischer Gesellschaften gewisse Schwierigkeiten, denn es ist uneinsichtig, warum die ökonomisch herrschende Klasse den ausgebeuteten Klassen gleiches Wahlrecht bei der Bestellung der Regierung zugestehen sollte, zumal die letzteren zahlenmäßig bei weitem überlegen sind.

Um dieses Paradox aufzulösen, wird die klassentheoretische Interpretation durch zusätzliche Annahmen modifiziert und verfeinert. Eine Möglichkeit hierzu ist die These, dass politische Demokratie unter kapitalistischen Verhältnissen nur scheinhaft ist. Selbst wo politische Demokratie formal garantiert sei - z. B. durch die Kandidatur sozialistischer oder kommunistischer Parteien und durch die geheime Abstimmung -, werde durch die verschiedensten Mechanismen verhindert, dass die Mitglieder der ausgebeuteten Klassen ihrem wirklichen Interesse entsprechend wählen und eine Regierung sowie eine gesetzgebende Körperschaft einsetzen, die die herrschende Klasse enteignet.

Solche theoretischen Versuche müssen damit immer auf eine Manipulationsthese hinauslaufen, die erklärt, warum die Ausgebeuteten nicht für die Abschaffung ihrer Ausbeutung stimmen, obwohl sie dies formal könnten.

So wichtig eine derartige Manipulationsthese auch für sich genommen sein mag, so problematisch ist sie jedoch für das Basis-Überbau-Theorem, denn die Manipulationsthese besagt ja nichts geringeres, als dass das Bewusstsein der Lohnarbeiterklasse gerade nicht durch ihr gesellschaftliches Sein in Gestalt ihrer Klassenlage bestimmt wird, das sie also kein "Klassenbewusstsein" besitzen. Wenn die Manipulationsthese erklären will, warum die Klasse nicht als Klasse agiert, so ist damit die Aussagekraft der Klassentheorie selber in Frage gestellt.

Eine andere Modifikation der These vom Staat als Herrschaftsinstrument der jeweils besitzenden Klasse besteht darin, dass man die einfache Gegenüberstellung von "herrschender" und "unterdrückter" Klasse insofern erweitert, als man die Möglichkeit quantitativ abstufbarer Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen einführt.

Die politische Herrschaft der besitzenden Klasse muss dann nicht unbeschränkt seien, denn je nach der politischen Stärke der ausgebeuteten Klasse müssen deren Interessen mehr oder weniger mitberücksichtigt werden. Die tatsächliche Politik ist dann nicht mehr einfach Ausdruck der kollektiven Interessen der besitzenden Klassen, sondern eine Resultante des jeweiligen politischen Kräfteverhältnisses. Dadurch kann die Einführung von Elementen politischer Demokratie – wie z. B. das gleiche Stimmrecht für Arbeiter und die Koalitionsfreiheit auch für sozialistische Parteien – klassentheoretisch als Errungenschaft der Arbeiterbewegung interpretiert werden, die gegen den Willen der Kapitalistenklasse erkämpft wurde.

Allerdings ist auch eine solche Modifikation der klassentheoretischen Interpretation des Basis–Überbau-Verhältnisses nicht unproblematisch für das theoretische Gebäude selber. Wenn nämlich nicht zugleich eine quantitative Obergrenze für den möglichen Einfluss der ausgebeuteten Klasse auf die staatliche Politik gegeben werden kann, so löst sich die These vom Staat als Instrument der herrschenden Klasse in nichts auf, da der Staat dann unter Umständen auch zum Instrument der ökonomisch unterdrückten Klasse werden kann. In beiden Modifikationsversuchen einer klassentheoretischen Erklärung für die Entwicklung politischer Demokratie in kapitalistischen Gesellschaften treten also neue theoretische Schwierigkeiten auf.

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Die "kapitallogische" Erklärung der Entstehung politischer Demokratie

In jüngster Zeit wurde eine andere Interpretation des Basis-Überbau-Verhältnisses schwerpunktmäßig diskutiert, die man als "kapitallogische" Interpretation bezeichnen kann. (Zur Literatur siehe den oben genannten Aufsatz von Thomas Blanke.) Mit der gleichen Methode, wie Marx aus dem Begriff der Ware das Geld und das Kapital entwickelt, sollen auch andere Überbauphänomene wie z. B. das Klassenbewusstsein oder der bürgerlicher Staat aus dem Kapitalbegriff bzw. den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung entwickelt oder abgeleitet werden, wie es heißt.

Gegenstand der Ableitung sollen dabei Form und Funktion des bürgerlichen Staates sein, d. h. dass damit auch der Anspruch erhoben wird, die Form der politischen Demokratie aus dem Kapitalverhältnis zu erklären.

Dies wird vor allem über eine vermeintliche Strukturanalogie zwischen Warentausch und politischer Demokratie versucht. Demnach wurzeln die demokratischen Prinzipien "Freiheit" und "Gleichheit" in der Struktur des Warentausches.

Dies wird folgendermaßen begründet:

Die Warenzirkulation setzt "Freiheit" insofern voraus, als der Warenbesitzer unabhängig vom Willen anderer über sein Eigentum frei verfügen können muss und als Rechtssubjekt "freiwillige" Tauschverträge abschließen können muss. "Gleichheit" ist in der Warenzirkulation insofern vorausgesetzt, als für den Tauschakt gleichgültig ist, wer eine Ware anbietet; es kommt allein auf die Ware und auf ihren Tauschwert an, und insofern sind alle Warenbesitzer gleichgestellt.

Der ungehinderte Warenaustausch setzt also Erwerbs- bzw. Vertragsfreiheit voraus und die Gleichsetzung der Individuen in ihrer Rolle als Eigentümer und geschäftsfähige Rechtssubjekte. Damit ist zugleich auch eine gewisse Rechtssicherheit und der Schutz vor Eingriffen Dritter in die Tauschgeschäfte der Eigentümer impliziert.

Aus diesen Rechtsverhältnissen ergibt sich als Staatsform jedoch höchstens ein konstitutioneller Rechtsstaat als Garant der Tauschverträge, nicht jedoch eine politische Demokratie, in der gesetzgebende Körperschaft und Regierung aus freien und gleichen Wahlen hervorgehen.

Dies entspricht auch der tatsächlichen historischen Entwicklung, denn das allgemeine und gleiche Wahlrecht wurde in den meisten kapitalistischen Ländern erst sehr spät nach dem 1.Weltkrieg eingeführt.

Die demokratische "Freiheit" und "Gleichheit" der Staatsbürger ist in der Tat von anderer Art als die '"Freiheit" und "Gleichheit" der Eigentümer. Gleiches Eigentumsrecht findet gerade auf der Basis ungleichen Eigentums statt, während gleiches Stimmrecht für jeden eine Stimme bedeutet. Freiheit des Eigentümers ist Freiheit des Handelns, allerdings nur innerhalb der individuellen Eigentumssphäre, während die Freiheit des Staatsbürgers und Wählers eine Freiheit der Interessenvertretung ist, die nicht auf Eigentumssphären beschränkt bleibt, deren Verwirklichung jedoch an eine Mehrheitsbildung gebunden ist.

Freiheit und Gleichheit bedeuten also bei Tauschvorgängen und bei Abstimmungen völlig verschiedenes, und insofern sind Tauschprinzip und Mehrheitsprinzip nicht analog strukturiert, sondern sie schließen einander im Gegenteil aus, wenn sie auf den gleichen Entscheidungsbereich angewandt werden.

Was aus dem allgemeinen "Begriff des Kapitals" an Funktionen und Formen des Staates abgeleitet werden können, bezieht sich gerade nicht auf die Form der politischen Demokratie. Deshalb ist es problematisch, im Falle eines demokratisch verfassten Staates undifferenziert von einem "bürgerlichen Staat" im Sinne eines "Staates der Bourgeoisie" bzw. von einer "bürgerlichen Demokratie" im Sinne einer "Demokratie der bürgerlichen Klasse" zu sprechen.

Dies wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Eigentumsordnung der demokratischen Entscheidung z. B. durch Verfassungsgrundsatz entzogen wäre. In allen anderen Fällen ist die Koexistenz kapitalistischer Eigentumsverhältnisse und politischer Demokratie ein eher prekäres Verhältnis, das sich weder aus den Interessen der ökonomisch herrschenden Klasse noch aus der Logik des Kapitalbegriffs mit irgendeiner Notwendigkeit ergibt.

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Die Bewertung politischer Demokratie in der marxistischen Staatstheorie

Im Vorangegangenen wurden zwei marxistische Ansätze zur Erklärung des Entstehens demokratisch verfasster kapitalistischer Staaten kurz analysiert. Im Folgenden soll nun nicht nach Erklärungen gefragt werden, die zeigen, warum es so ist, wie es ist, sondern es soll nach der Bewertung der politischen Demokratie gefragt werden, die sich aus marxistischen Theorieansätzen ergibt. Bewertungen bejahen bzw. verneinen bestimmte Sachverhalte und sind insofern handlungsleitend, als in ihnen Zielsetzungen formuliert werden.

Die Frage, wie in der marxistischen Theorie die politische Demokratie im oben präzisierten Sinn bewertet wird, d. h. ob und wenn ja in welcher Weise politische Demokratie eine sich aus der marxistischen Theorie ergebende politische Zielsetzung darstellt, ist aus verschiedenen Gründen nicht einfach zu beantworten. Einer der entscheidenden Gründe hierfür ist die bewusste Enthaltsamkeit, die Marx selber in Bezug auf die Formulierung politischer und ökonomischer Wertungen und Zielsetzungen für erforderlich hielt, die Engels dann auf die Formel gebracht hat, dass durch Marx der Sozialismus von einer Utopie zu einer Wissenschaft geworden sei.

Marx wollte eine Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft schaffen, ähnlich etwa wie Darwin eine wissenschaftliche Theorie über die Entstehung und Entwicklung der biologischen Arten geschaffen hatte.

Marx wollte nicht die bestehenden Verhältnisse anklagen oder positive Zielsetzungen proklamieren, sondern er wollte die Ursache und Tendenzen der tatsächlichen sozialen Entwicklung aufdecken. Dabei ergab sich jedoch als Resultat seiner Analyse des Kapitalismus die Tendenz zu sich verschärfenden ökonomischen Krisen, zur Polarisierung der sozialen Klassen und damit letztlich zum Untergang der kapitalistischen Produktionsweise.

Die reale historische Entwicklung hin zu einer klassenlosen Gesellschaft fällt bei Marx mit der positiven Programmatik einer klassenlosen Gesellschaft zusammen, so dass es sich erübrigt, die angestrebten gesellschaftlichen Verhältnisse zu präzisieren. Zielvorstellungen ökonomischer oder politische Art finden sich dem zu Folge in den von Marx zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schriften höchstens in Nebenbemerkungen.

Allerdings ist der Verzicht auf die Formulierung politischer Werturteile und Zielsetzungen schon bei Marx keineswegs strikt durchgehalten, und auf Basis der marxschen Theorie sind zum Teil vehemente Anklagen erhoben worden. Dies wird vor allem dadurch begünstigt, dass zentrale Begriffe der Marxschen Analyse wie z. B. "Ausbeutung", "Klassenherrschaft" oder "Entfremdung" nicht nur eine deskriptive Bedeutung haben, also einen bestimmten Tatbestand bezeichnen, sondern zugleich ein hochgradig wertendes Moment enthalten. Bei den Begriffen "Ausbeutung", "Klassenherrschaft" und "Entfremdung" ist immer zugleich die Forderung nach ihrer Abschaffung und ihre negative Bewertung mitgedacht.

Allerdings bleiben diese wertenden bzw. normativen Elemente implizit und es wird auch von den meisten marxistischen Theoretikern abgelehnt, überhaupt zwischen positiven und normativen Theorieelementen analytisch zu differenzieren. Die methodologische Unterscheidung von Behauptungen, die auf der Ebene des Seins liegen (Beschreibungen, Erklärungen usw.) und Behauptungen, die auf der Ebene des Sollens liegen (Werturteile, Normensätze u. ä.) wird gewöhnlich nicht akzeptiert.

Trotz dieser Schwierigkeiten soll der Versuch gemacht werden, nach der Bewertung der politischen Demokratie durch die marxistische Theorie zu fragen, und die spezifisch marxistische Verbindung von Erklärung und Bewertung in diesem Zusammenhang näher zu analysieren.

Eine der wichtigsten Argumentationsfiguren, mit deren Hilfe der Übergang von der Analyse des Gegenstand zu seiner (negativen) Bewertung vollzogen wird, ist der Nachweis, dass ein Phänomen seinen Ursprung in den kapitalistischen Produktionsverhältnisse hat bzw. der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse dient. Phänomene, die auf Grund ihres Ursprungs oder ihrer Funktion das Attribut "bürgerlich" zugesprochen bekommen – sei es als "bürgerliche Wissenschaft", "bürgerliche Kunst", "bürgerlicher Staat", "bürgerliches Recht" oder "bürgerliche Demokratie" – verfallen damit der gleichen Kritik wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selber.

Die Frage, ob die politische Demokratie in einem kausallogisch oder begrifflich-dialektisch notwendigen Zusammenhang zum kapitalistischen Systems steht, ist in vorangegangenen Überlegungen bereits beantwortet worden, so dass die Kennzeichnung der oben skizzierten politischen Demokratie als "bürgerliche Demokratie" theoretisch nicht gerechtfertigt ist. Die bloße Tatsache, dass sich Formen politischer Demokratie in kapitalistischen Gesellschaften – übrigens nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und auch keineswegs durchgängig – herausgebildet haben, ist als solche eben kein Beweis für deren" bürgerlichen" Charakter, ebenso wenig wie die Arbeiterbewegung "bürgerlich" ist, weil sie sich in kapitalistischen Gesellschaften herausgebildet hat.

Auch der Vorwurf gegen die politische Demokratie, dass sie die ökonomische Klassenstruktur durch den Anschein von Freiheit und Gleichheit verschleiere und insofern "bürgerliche Demokratie" sei, zäumt das Pferd vom Schwanz auf. Nicht die Existenz politischer Demokratie bewirkt die Verschleierung, sondern die Verschleierung muss bereits in den Köpfen der Individuen sein, damit diese in freien Wahlen pro-kapitalistisch wählen.

Dabei wäre noch zu prüfen, inwiefern sich ein solches Wahlverhalten nicht nur aufgrund einer "Verschleierung" ergibt, sondern auch aus dem Verlust einer positiven sozialistischen Zukunftsperspektiven und aus dem Fehlen einer fassbaren sozialistischen Alternative.

Wenn sich in einer politischen Demokratie pro-kapitalistische Mehrheiten ergeben, so muss das noch nicht gegen die politische Demokratie sprechen. Es kann vielmehr auch gegen die Sozialisten bzw. gegen die Attraktivität ihres politischen Programms sprechen.

Wenn sich politische Demokratie nicht als "kapitalistisch" oder "bürgerlich" identifizieren lässt, so stellt sich die Frage, wie sie im Rahmen der marxistischen Theorie dann bewertet werden kann. Verschiedene Argumentationsmuster sollen hier einmal kurz skizziert und analysiert werden.

Eine gebräuchliche Denkfigur ist die Konzeption der "historischer Errungenschaften". Dabei wird die Geschichte der Menschheit als ein Fortschrittsprozess gedeutet, der sich durch die einander ablösenden Gesellschaftsformationen und Revolutionen stetig hindurch aufbaut.

An diesem historischen Fortschritt haben auch solche Klassen ihren Anteil, die zu einem späteren Zeitpunkt reaktionär und fortschrittshemmend werden. So ist nach diesem Verständnis zum Beispiel die Entwicklung der Produktivkräfte und der Wissenschaft ein "historisches Verdienst" der aufstrebenden Bourgeoisie, d. h. dass Wissenschaft und Technik historische Errungenschaften sind, die auch nach dem Untergang des Kapitalismus erhalten bleiben.

In ähnlicher Weise könnte man auch die politische Demokratie als historische Errungenschaft deuten, die zwar in der Epoche des Kapitalismus entstanden ist, mit diesen jedoch nicht untergehen soll.

Das Problem bei dieser Betrachtungsweise ist jedoch, dass man ein Kriterium benötigt, um zu unterscheiden, was eine "historische Errungenschaft" bzw. was "fortschrittlich" ist und was nicht. Dies Kriterium lässt sich jedoch nicht aus Analyse der tatsächlichen historischen Entwicklung gewinnen, denn es gibt natürlich auch historische Tendenzen, die gerade zu bekämpfen sind – zum Beispiel bestimmte Formen der Bürokratisierung, der Arbeitsteilung oder der Umweltzerstörung.

Daraus folgt, dass man sich nicht auf einen historischen Optimismus verlassen kann, der die tatsächliche historische Entwicklung mit Fortschritt gleichsetzt, sondern dass man sich explizit die Frage vorlegen muss nach den Kriterien für die Bewertung politischer Demokratie. Das bedeutet, dass sich ohne eine normative Rechts- bzw. Sozialphilosophie derartige Bewertungsfragen nicht lösen lassen.

Ein anderer Versuch, auf marxistischer Grundlage eine Bewertung politischer Demokratie vorzunehmen, beruht auf der Feststellung, dass diese für den politischen Kampf der Arbeiterklasse förderlich ist. So gibt es zum Beispiel die Auffassung, dass politische Demokratie zumindest in kapitalistischen Gesellschaften zu bejahen ist, weil sie der eigenen sozialistischen Politik den größten Spielraum lässt.

Eine solche Rechtfertigung kann jedoch höchstens für diejenigen ein Argument sein, an deren Vorteil hier appelliert wird, also für Angehörige der sozialistischen Bewegung selber. (Außerdem ist eine solche Zweckmäßigkeitsüberlegung immer an eine bestimmte Situation gebunden, so dass eine solche Rechtfertigung politischer Demokratie zum Beispiel ohne weiteres mit der Auffassung vereinbar ist, dass eine derartige politische Demokratie in einer sozialistischen Gesellschaft nicht notwendig ist, da dort die kommunistische Partei aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse über die richtige Politik entscheidet.)

Wenn politische Demokratie in dieser Weise als geeignetes Mittel zum Zweck gerechtfertigt wird, so muss die Richtigkeit des Zweckes, in diesem Fall die sozialistische Umwälzung der Produktionsverhältnisse, immer schon vorausgesetzt werden. Die Rechtfertigung des Sozialismus als einer - gegenüber den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen - besseren Gesellschaftsordnung kann aber wiederum nur von einer normativen Sozialphilosophie geleistet werden. Kein Determinismus historischer Gesetzmäßigkeiten nimmt uns die Entscheidung darüber ab, wofür und wogegen wir in einer gegebenen historischen Situation uns einsetzen sollen.


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Kritik der Thesen zur marxistischen Rechtstheorie von O. Negt

 (1976)

Anhang:   Zur Kritik am "ahistorischen Vorgehen" der normativen Rechtstheorie

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Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die These, dass sich im Zusammenhang politischen Handelns notwendig Fragen stellen wie die Folgenden:
- ob ein bestimmtes Handeln positiv oder negativ zu bewerten ist;
- ob ein bestimmter sozialer Zustand ein erstrebenswertes Ziel ist oder nicht;
- ob eine bestimmte ethische oder rechtliche Norm zu bejahen oder abzulehnen ist;
- ob sich eine bestimmte soziale Ordnung vernünftig rechtfertigen lässt oder nicht.

Solche Fragen, die die Bewertung, Kritik oder Normierung sozialer Sachverhalte zum Gegenstand haben, kann man als "normative" Fragen bezeichnen, insofern sie direkt oder indirekt menschliches Handeln und Entscheiden anleiten bzw. normieren. (Zum logischen und erkenntnistheoretischen Status von Werturteilen und Normen s. z. B. den Beitrag von Rottleuthner in ders.: 1975. Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden auf diesen Sammelband, in dem auch die Thesen von Negt enthalten sind.)

Wenn man zugesteht, dass sich solche normativen Fragen tatsächlich stellen und dass sie außerdem weder irrelevant noch sinnlos sind, so erhebt sich für die verschiedenen Rechtstheorien die Frage, auf welche Weise sie diese normativen Fragen beantworten. Im Folgenden soll die Konzeption Oskar Negts daraufhin untersucht werden.

Vorweg ist festzustellen, dass eine Analyse des Negtschen Textes nicht einfach ist, da er in seinen Thesen nicht systematisch im Sinne eines logisch geordneten Aufbaus seiner Behauptungen argumentiert. Er bezieht sich außerdem auf einen nicht näher geklärten Traditionsbestand marxistischer Theorie, ohne dabei die jeweiligen philosophisch-methodologischen Grundlagen noch einmal ausdrücklich zu reflektieren.

Hinzukommt, dass Negt nicht klärt, wie sich für ihn die verschiedenen Erkenntnisebenen einer Theorie des Rechts zueinander erkenntnistheoretisch verhalten. Generell scheint Negt den Bemühungen um eine normative Rechtstheorie eher ablehnend gegenüberzustehen, was deutlich wird, wenn er von den "heutzutage wieder wie Pilze aus dem Boden schießenden Ansätzen zur philosophischen Überwindung des Gesetzespositivismus" (S.1) spricht. An anderer Stelle bezieht er sich zustimmend auf Engels, wenn dieser sich "mit Entschiedenheit dagegen (wendet), eine von der Gesellschaftstheorie des historischen Materialismus abgetrennte Rechtsphilosophie aus dem Parteiprogramm der Arbeiterklasse zu entwickeln." (S.36).

Es erhebt sich also die Frage, in welcher Weise Negt die oben skizzierten normativen Fragestellungen rechtstheoretisch zu beantworten gedenkt. Dazu müssen zuerst die eher verstreut sich findenden Bemerkungen hierzu systematisch rekonstruiert werden.

Zur Methode der Rechtstheorie finden sich verschiedene Äußerungen. Zum einen muss nach Negt "historisch" vorgegangen werden, denn Negt wendet sich mehrfach gegen den "geschichtslosen Rahmen" und die "scheinbar geschichtslosen Vernunftpostulate" nicht-marxistischer Rechtsphilosophien. Zum andern muss die Methode "materialistisch" sein. Es gilt "den materiellen Grund (festzulegen), auf den die Dialektik von Genesis und Geltung der Rechtsnormen ... zwangsläufig zurückgeht." Die Gefahr liegt für Negt "in jeder Abtrennung des normativen Gehalts des Rechts von seiner gesellschaftlichen Genesis. Produktion und Produktionsweise sind die Kategorien der Realität, die diesen Ausgangs- und Bezugspunkt bezeichnen." (S.42)

Negt demonstriert die Verfahrensweise einer derartigen historischen und materialistischen Rechtstheorie am Begriff der Gerechtigkeit. Ausgangspunkt ist ein Zitat von Marx, der schreibt: "Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktionsagenten vorgehen, beruht darauf, dass diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen. ... Sklaverei, auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht; ebenso der Betrug auf die Qualität der Ware." (S.42f.) Negt zieht aus diesem Zitat den Schluss, dass die Produktionsweise der Maßstab für die Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse als "gerecht" und "ungerecht" ist.

Das bedeutet, dass der Begriff "Gerechtigkeit" auf die jeweilige Produktionsweise und ihre Systemlogik relativiert wird. Offensichtlich handelt es sich für Negt hier um eine Aussage über die faktische Gebundenheit von Gerechtigkeitsvorstellungen an die Bedingungen der jeweiligen Produktionsweise. Entsprechend argumentiert er auch mit dem faktischen Hinweis, dass es "in Rom ... niemand als ungerecht (empfand), den Sklaven als rechtloses instrumentum vocale zu bezeichnen." (S.44).

Wie man sieht, gibt sich Negt realistisch-nüchtern in Bezug auf irgendwelche Gerechtigkeitsforderungen und verengt den Begriff "gerecht" auf "systemgerecht". Die Kritik einer ganzen Produktionsweise als ungerecht will er damit ausschließen, wobei noch unklar ist, ob er damit meint, dass solche systemtranszendenten Vorstellungen von  Gerechtigkeit faktisch nicht existieren, oder ob er solche Gerechtigkeitsvorstellungen nur für unzulässig hält.

Die großen politischen Gefahren einer derartigen Verengung des Gerechtigkeitsbegriffs scheinen jedoch Negt letztlich selber bewusst geworden zu sein, denn im letzten Absatz des entsprechenden Abschnitts hält er sich plötzlich selber nicht mehr an seine historische Relativierung. Unvermittelt kommen Maßstäbe von Gerechtigkeit zum Vorschein, die es ihm erlauben, bei der Ablösung der einen Produktionsweise durch eine andere diese danach zu befragen, ob sie "ein Mehr an materieller Gerechtigkeit" verbürgt (S.44). Plötzlich bedient sich Negt eines Gerechtigkeitsbegriffs, von dem her bestimmte historische Entwicklungen als "Rückfall in objektiv überflüssig gewordene Gewalt" (S.44) verurteilt werden können.

Die zuvor beschworene "Dialektik von Genesis und Geltung der Rechtsnormen" stellt sich damit bei genauerem Hinsehen als eine rechtstheoretische Position dar, die weder in Bezug auf die Entstehung noch auf die Geltung wissenschaftlichen Standards gerecht wird.

Was die Genese von Gerechtigkeitsvorstellungen betrifft und ihre behauptete Gebundenheit an die jeweils bestehende Produktionsweise, so ist dies in dieser Allgemeinheit schlicht falsch, denn z. B. war und ist die Verurteilung der kapitalistischen Produktionsweise als ungerecht in der politisch aktiven Arbeiterschaft verbreitet.

Was die Geltung von Gerechtigkeitsvorstellungen betrifft, so kulminiert die Negtsche Position im unvermittelten Einbringen materialer Gerechtigkeitsvorstellungen, die eigentlich eine ganze normative Rechtsphilosophie voraussetzen, ohne dass sich Negt aber dieser Mühe je unterzogen hätte.

Negts apodiktischer Stil in Bezug auf normative Fragen wird auch daran deutlich, dass er in seiner letzten (!) These ohne viel historisch-materialistische Umstände fordert, "alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein erniedrigtes und ausgebeutetes Leben zu führen gezwungen ist" (S.58). Diese Forderung mag richtig sein, aber ohne jede inhaltliche Präzisierung und argumentative Begründung ist es eine Parole aber keine Rechtstheorie.

In ähnlich unvermittelter Weise führt Negt auch seine sonstigen normativen Vorstellungen ein, die vor allem um den Begriff der "Selbstverwaltung" kreisen. Negt liefert hierfür weniger eine erkenntnistheoretisch reflektierte Begründung, wie es die von ihm abgelehnten Rechtsphilosophien zumindest versuchen, sondern er präsentiert stattdessen nur eine Vielzahl austauschbarer Formulierungen wie "Selbstregulierung", "Autonomie", "Selbstverwirklichung der Subjekte", "freie Assoziation" etc., die offenbar für sich selber sprechen.

Das Fehlen einer erkenntnistheoretischen Reflexion der normativen Fragestellung durch Negt wirkt sich auch negativ auf die Beurteilung konkreter historischer Entwicklungen aus, wie im Folgenden am Beispiel seiner Einschätzung der sowjetischen Entwicklung verdeutlicht werden soll.

Da Negt keine Kriterien dafür entwickelt, wo "notwendige Gewalt" aufhört und wo "überflüssige Gewalt" anfängt, beschränkt sich seine Kritik darauf, dass die Perspektive vom Absterben der Rechtsform aufgegeben wurde. Und in einer für einen Verfechter der Selbstverwaltung seltsam unkritischen Berufung auf Lenin und den frühen Lukacs werden für Negt Partei und Staat unversehens zu Repräsentanten des Allgemeininteresses: "Rechtsverhältnisse sind unter den Anfangsbedingungen der nachrevolutionären Gesellschaft vor allem notwendig, um den Widerspruch zwischen den privaten Interessen und Bedürfnissen der Menschen und dem von der Partei und dem proletarischen Staat repräsentierten Allgemeininteresse zu lösen." (S.19)

Unversehens taucht hier der zentrale Begriff jeder normativen Staats- und Rechtstheorie auf, der Begriff des "Allgemeininteresses", ohne den offensichtlich auch Negt nicht auszukommen scheint, wo es um die Rechtfertigung staatlicher Machtausübung geht. Problematisch ist dabei, dass er derart zentrale normative Positionen eher beiläufig einfließen lässt und sie damit einer offenen, gründlichen Diskussion entzieht. Negt unterlässt das, was man von jeder einigermaßen reflektierten normativen Staatstheorie verlangen muss, nämlich seinen Begriff des Allgemeininteresses näher auszuführen und zu begründen. Anstatt diesen Begriff als Blankoscheck für jede staatliche Unterdrückung ungeklärt stehen zu lassen, hätte er fragen müssen: Wie lassen sich die Interessen der Individuen bestimmen? Wie verhält sich das Allgemeininteresse zu den individuellen Interessen und wie lässt es sich bestimmen? Unter welchen Bedingungen kann ein Staat oder eine Partei Repräsentant des Allgemeininteresses sein? Hier liegen die brisanten Fragen jeder normativen Staats- und Rechtstheorie, die Negt zwar fortlaufend irgendwie für sich entscheidet, ohne dass er sie jedoch jemals systematisch angegangen ist.

Entsprechend ist der Vorwurf, den Negt gegenüber der Stalinschen Politik erhebt, dann auch nicht der, dass tatsächlich "überflüssige", nicht zu rechtfertigende Gewalt ausgeübt wurde; zu kritisieren ist allein, dass das Maß notwendiger Gewalt gegenüber den eigenen Klassenindividuen nicht mehr offen ausgesprochen wurde, sondern "unter dem Schleier der Anwendung revolutionärer Legalität durch die Arbeiterklasse gegenüber konterrevolutionären Kräften verdeckt ist." (S.22). Falsch war also nicht die Politik Stalins sondern nur deren mangelhafte Begründung.

Demgegenüber ist jedoch zu fragen, ob nicht schon in der Parteitheorie Lenins und des frühen Lukacs, auf die Negt sich beruft, die Möglichkeit der Stalinschen Repression angelegt ist, ob diese Parteitheorie nicht ein geradezu ideales apologetisches Instrument für die Stalinsche Politik darstellte. Denn wenn die Partei bzw. der von ihre gesteuerte Staat Repräsentant des Klasseninteresses bzw. des Allgemeininteresses ist, so stellen alle mit der Politik der Partei unvereinbaren Interessen private Abweichungen der Individuen vom Klasseninteresse dar, wogegen nach Lukacs "das Proletariat die Diktatur auch auf sich selbst" anwenden muss. (S.22).

Die Frage, unter welchen Bedingungen denn die Partei Repräsentant des Klasseninteresses ist, diese politisch zentrale Frage, mit der alles weitere steht und fällt, wird von Negt nicht mehr diskutiert.

Es bleibt übrigens rätselhaft, wie Negt als Vertreter einer Selbstverwaltungskonzeption zugleich implizit die Parteitheorie Lenins und des frühen Lukacs vertreten kann. Für beide sind – zugespitzt gesprochen - die vorhandenen Interessen der einzelnen Arbeiter vielleicht eine zu berücksichtigende reale Größe, aber für die Bestimmung des Klasseninteresses und damit für die Zielbestimmung der Politik sind sie letztlich irrelevant. (S. etwa Georg Lukacs: "Klassenbewusstsein" in: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S.57ff.) Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Wo die Partei als solche zum Repräsentanten des Klassen- bzw. Allgemeininteresses erklärt wird, müssen alle anderen Formen des politischen Willensbildungsprozesses bloße Fassade bleiben - und seien es auf dem Papier auch autonome Räterepubliken.


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Zur Kritik am "ahistorischen Vorgehen" der normativen Rechtstheorie


 
(1977)


Es gehört heute zu den philosophischen Allgemeinplätzen, dass Fragen der Gerechtigkeit bzw. der Gültigkeit von Normen nicht "ahistorisch" betrachtet werden dürfen. Diese Auffassung, die keineswegs nur von Marxisten geteilt wird, ist in dieser Allgemeinheit zweifellos richtig. Kaum jemand würde wohl behaupten wollen, es gäbe nur eine einzige, für alle Zeiten und Völker "beste" und gerechte Gesellschaftsordnung.

Allerdings ist mit dieser allgemeinen Feststellung von der historischen Relativität sozialer Normen das Verhältnis von normativer Gültigkeit und Geschichtlichkeit keineswegs gelöst, sondern eigentlich erst gestellt: Was sind - z. B. bezogen auf die Frage nach der Gerechtigkeit - die relevanten historischen Unterschiede, die zu den unterschiedlichen normativen Ergebnissen führen?

Die Antworten, die hierauf gegeben werden, sind vielfältig. So meint z. B. Oskar Negt in seinen Thesen zur marxistischen Rechtstheorie, dass der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse, sowie Art und Richtung der intendierten sozialen Umwälzung zu berücksichtigen seien.

Ohne inhaltlich weiter auf diese Position einzugehen, wird am vorhergehenden Satz doch deutlich, dass auch jemand wie Negt, der sich ausdrücklich zum historischen Vorgehen bekennt, damit eine methodische Aussage macht, die selber nicht mehr historisch relativ ist.

Negts Aussage enthält die normativen Gesichtspunkte, unter denen die verschiedenen historischen Epochen zu beurteilen sind. Sie kennzeichnet die Methode, mit der Fragen der Gerechtigkeit unabhängig vom historischen Zeitpunkt zu behandeln sind. Solche methodischen Aussagen sind keineswegs in derselben Weise historisch relativ, wie es die normativen Ergebnisse sind, die für die verschiedenen Epochen gewonnen werden.

Ein Beispiel soll den Unterschied zwischen der methodischen Ebene und der Ebene der inhaltlichen Normen verdeutlichen: Man kann z. B. die methodische Position vertreten, dass es bei der Beantwortung von Fragen nach dem, was sein soll, vor allem auf die gegebenen Möglichkeiten - also auf das, was sein kann - ankommt und dass dabei besonders die produktiven Möglichkeiten, d. h. der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, entscheidend sind.

Unter Einbeziehung weiterer Gesichtspunkte könnte sich aus dieser Position als inhaltliche Norm z. B. ergeben, dass in einer Epoche mit geringeren produktiven Möglichkeiten eine längere Arbeitszeit und eine größere Einkommensdifferenzierung gerechtfertigt ist als in einer Epoche mit hervorragend entwickelter Produktionstechnik. Das gleiche methodische Prinzip führt hier also zu unterschiedlichen normativen Ergebnissen, wenn es auf verschiedene historische Epochen mit unterschiedlichen Bedingungen angewandt wird.

Dass solche methodischen Prinzipien auftauchen, die selber nicht historisch relativiert  sind, ist eigentlich gar nicht verwunderlich, denn man richtet ja an unterschiedliche historische Epochen dieselbe Frage nach der Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und man wendet den gleichen Begriff "Gerechtigkeit" an.

Die unabhängig von den historischen Epochen geltenden Prinzipien, die die Methode angeben, wie Fragen der Gerechtigkeit zu beantworten sind, sind im Grunde ja nichts anderes als die Ausformulierung dessen, was man meint, wenn man die Frage nach der Gerechtigkeit sozialer Verhältnisse stellt.

Diejenige Teildisziplin der Philosophie, die sich mit den Implikationen des Gerechtigkeitsbegriffes befasst (man kann sie auch als "normative Methodologie" bezeichnen insofern sie die "Lehre von der Methode zur Beantwortung normativer Fragen" darstellt) ist dann insofern "ahistorisch", als sie sich nicht mit historisch-konkreten normativen Fragen befasst, sondern damit, wie Fragen einer bestimmten Art (normative Fragen bzw. Fragen nach der Gerechtigkeit) beantwortet werden können. Eine solche "reine praktische Vernunft" (um einen Begriffe Kants zu verwenden) ist als philosophische Disziplin nicht nur möglich sondern unabdingbar.

Aus den hier skizzierten Überlegungen ergeben sich einige Konsequenzen hinsichtlich dessen, was mit der "historischen Relativität normativer Behauptungen" gemeint sein kann und was nicht.

Zum einen: Wenn bestimmte soziale Verhältnisse gemäß den in der normativen Methodologie entwickelten Prinzipien gerechtfertigt sind, so spielt der Zeitpunkt ihrer Existenz keine Rolle. Der gegenteilige Eindruck einer völligen Zeitgebundenheit des normativen Urteils - weil z. B. eine bestimmte Norm früher gerechtfertigt war und heute nicht - entsteht aus dem Umstand, dass man dabei nur isoliert die betreffende Norm selber im Blick hat, aber die geänderten Verhältnisse - z. B. die geänderten Bedürfnisse und Möglichkeiten - nicht mehr ausdrücklich erwähnt. Das was früher richtig war, bleibt auch heute richtig, aber es ist wegen der veränderten Bedingungen nicht mehr anwendbar. Das Untergehen von Normen im Zeitverlauf ist also in diesen Fällen kein Falschwerden sondern ein Veralten.

Ebenso wenig spielt bei der Frage, ob bestimmte Verhältnisse gerechtfertigt sind, der Zeitpunkt eine Rolle, zu dem die Beurteilung vorgenommen wird. Zwar kann sich eine normative Beurteilung im Laufe der Zeit ändern: Verhältnisse, die ich gestern für gerecht gehalten habe, kann ich heute kritisieren, aber dann habe ich gleichzeitig meine frühere Gerechtigkeitsauffassung revidiert. Was ich heute für falsch halte war auch damals schon falsch, ich hatte es damals nur noch nicht bemerkt.

Zum Abschluss sei noch erwähnt, dass es natürlich nicht beliebig ist, wann bestimmte normative Vorstellungen entstehen und von wem sie akzeptiert und propagiert werden. So setzt z. B. das Entstehen von Vorstellungen normativer Gültigkeit, die an einen intersubjektiven, argumentativen Konsens gebunden sind, die Emanzipation der Individuen aus der unreflektierten Übernahme tradierter sozialer Normen voraus, ähnlich wie die modernen Naturwissenschaften die Emanzipation der Individuen aus den tradierten Weltbildern und Glaubensinhalten voraussetzen.

Eine derartige Reflektion der sozialen Entstehungsbedingungen normativer Positionen und Theorien ist sinnvoll und notwendig, sie kann jedoch die Entwicklung eigener normativer Theorien nicht ersetzen.

***


Die programmatische Diskussion der Linken vorantreiben


 
(1977)

Inhalt:

I.  Das Fehlen einer politischen Programmatik
II. Innertheoretische Gründe für das programmatische Defizit
III. Zunehmend negative Folgen der fehlenden programmatischen Klärung
IV. Verschüttete programmatische Ansätze der APO ["Außer-Parlamentarische Opposition"]: die Rätediskussion 
V. Ungeklärte Fragen sozialistischer Programmatik
VI. Das Verhältnis zu demokratischen Prinzipien und politischen Grundrechten
VII. Gesellschaftliche Komplexität und Basisdemokratie
VIII.  Die Zuflucht zum utopischen Menschenbild
IX.  Schlussbemerkung

 

 

Textanfang:

I.  Das Fehlen einer politischen Programmatik

Zu den Ursachen des Terrorismus sind an anderer Stelle dieser SAZ-Zeitung ["SAZ" - "Sozialistische Assistenten Zelle"] bereits nähere Ausführungen gemacht worden. Neben den dort analysierten sozialstrukturellen und sozialpsychologischen Bedingungen einer modernen kapitalistischen Gesellschaft hat sicherlich auch  ein theoretisches Defizit der westdeutschen "Neuen Linken" eine Rolle gespielt bei der Entwicklung der terroristischen Gruppen aus den Reihen der ehemaligen "Außerparlamentarischen Opposition". Welches Defizit damit gemeint ist, soll im Folgenden näher ausgeführt werden.

In der politisch-moralischen Kritik an den jüngsten terroristischen Aktionen spielt das Argument eine zentrale Rolle, dass Mittel wie Mord, Geiselnahme und Geiselerschießung ungeeignet sind, um dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft näherzukommen, da die Inhumanität der Mittel den sozialistischen Zielsetzungen einer humanen Gesellschaft völlig zuwider läuft. In diesem Sinne argumentierte z. B. das Sozialistische Büro in seiner Stellungnahme zu den terroristischen Aktionen. Das Problem bei einer solchen Kritik der Mittel des politischen Kampfes von den politischen Zielsetzungen her besteht jedoch darin, dass diese Zielsetzungen von der Neuen Linken selber bisher weitgehend unbestimmt gelassen wurden. So fehlen z. B. in den programmatischen "Thesen" des Sozialistischen Büros aus dem Jahr 1975 die politisch-ökonomischen Zielvorstellungen völlig, anhand derer sich Mittel des politischen Kampfes konkreter bestimmen ließen.

Auch in anderen programmatischen Äußerungen der Linken finden sich bis auf wenige Ausnahmen - wie z.B. bei Mandel - nur negative Zielbestimmungen in Form einer Kritik dessen, was man nicht will; während die Gesellschaft, die man will, meist durch sehr allgemeine und vieldeutige Begriffe wie "sozialistisch", "demokratisch", "human", "herrschaftsfrei" oder ähnliches eher angedeutet als beschrieben wird. Überspitzt könnte man sagen, dass die Neue Linke - trotz erheblicher Fortschritte in der theoretischen Analyse - bis heute das geblieben ist, als was sie einmal angetreten ist, nämlich eine Protestbewegung, d.h. eine Bewegung, die zwar mit Vehemenz die bestehenden Verhältnisse - in West wie in Ost - kritisieren kann, der es aber bis heute nicht gelungen ist, eine eigene politisch-ökonomische Programmatik zu entwickeln.


II. Innertheoretische Gründe für das programmatische Defizit

 Die Gründe für dies programmatische Defizit der Neuen Linken sind dabei vielfältiger Art und sie liegen sicherlich zum erheblichen Teil in der Schwierigkeit der Materie selbst. Neben dieser unvermeidlichen Schwierigkeit hat sich die Neue Linke den Weg zur Entwicklung einer Programmatik jedoch auch selber durch Positionen verbaut, die das Fehlen einer Programmatik als unproblematisch, unvermeidlich oder gar als wünschenswert erscheinen ließen. In dieser anti-programmatischen Haltung sind dabei die verschiedensten theoretischen Elemente zusammengeflossen, Elemente mit einer teilweise ehrwürdigen Tradition in der sozialistischen Bewegung:

Da gab es Positionen, für die jede Entwicklung einer konkreten Programmatik "utopischer Sozialismus" oder ein Ausmalen des Schlaraffenlandes bedeutete; da stützte man sich - meist unausgesprochen - auf eine optimistische Geschichtsphilosophie, die sich über die Gestaltung der Zukunft nicht den Kopf zerbrechen brauchte, weil sie das den historischen Gesetzmäßigkeiten und einem darin wohnenden Fortschrittsprinzip der Höherentwicklung überlassen konnte; da gab es methodische Vorstellungen von "bestimmter Negation" und "negativer Dialektik", für die die Formulierung einer positiven Zielsetzungen die Sünde wider den Geist darstellte; und da gab es die bescheidenen Intellektuellen, die der Arbeiterklasse nicht vorschreiben wollten, wie die sozialistische Gesellschaft auszusehen hat.

All diese verschiedenen Positionen hatten die gleiche Wirkung, dass das Fehlen einer politisch-ökonomischen Programmatik nicht als Mangel erlebt wurde und folglich auch keine Anstrengungen in dieser Richtung unternommen wurden. Dies kam zumindest anfänglich auch praktisch-politischen Überlegungen entgegen, denn als Folge programmatischer Diskussionen und den dabei wahrscheinlich zutage tretenden Differenzen befürchtete man eine Zersplitterung und Schwächung der Linken.

III. Zunehmend negative Folgen der fehlenden programmatischen Klärung

Im Laufe der Zeit hat sich jedoch immer deutlicher herausgestellt, dass eine Einheit der Linken unter der Rubrik "antikapitalistische Kräfte" mehr und mehr zur Illusion geworden ist und dass die Nicht-Thematisierung der programmatischen Zielvorstellungen zukünftig die Politik derer eher schwächen als stärken wird, die man einmal grob als "emanzipatorische Linke" bezeichnen kann. Denn hinter der gemeinsamen Ablehnung des Kapitalismus und allgemeinen sozialistischen Formeln verbergen sich inzwischen weit auseinandergehende politische Zielvorstellungen und diesen entsprechende divergierende Strategien.

Ausdruck dieser grundsätzlichen Divergenzen sind nicht zuletzt die Diskussionen darüber, ob z.B. Gruppen wie der KSV [" Kommunistischer Studenten-Verband] oder auch die RAF [" Rote Armee-Fraktion" ] überhaupt noch als "Teile der Linken" anzusehen sind. Insofern man dabei allerdings die politischen Zielvorstellungen dieser Gruppen nicht ausdrücklich in die Diskussion mit einbezieht und damit letztlich doch der Gleichung 'links gleich antikapitalistisch' verhaftet bleibt, müssen solche Ausgrenzungsversuche von geringer Aussagekraft bleiben.

Bei divergierenden politischen Zielen stellt das fortgesetzte Postulat von der Einheit der Linken insofern eine Schwächung für die emanzipatorische Linke dar, als ihr deshalb auch die teilweise wahnwitzigen Aktionen derjenigen Sekten und Grüppchen angelastet werden, für die diese emanzipatorischen Zielvorstellungen bestenfalls noch philanthropisches Gefasel sind.

Die Aufsplitterung der Linken in Kräfte mit teilweise entgegen gesetzten Tendenzen ist ein Faktum, das durch eine programmatische Diskussion nicht erst erzeugt, sondern nur verdeutlicht wird. Nur wenn die politischen Zielvorstellungen jedoch verdeutlicht werden, können sie auch rational diskutiert und argumentativ verändert werden.

Dazu ist es allerdings notwendig, dass diese Diskussion ohne die weit verbreitete Arroganz jener Theoretiker geführt wird, die auch bei den ungeklärtesten Fragen sozialistischer Politik ihre eigene Position immer mit dem Habitus einer Verkündung ex cathedra vortragen. Außerdem muss im Auge behalten werden, dass eine programmatische Konkretisierung keinesfalls bedeutet, dass man ein detailliertes und ein-für-alle-mal fixiertes Zukunftsmodell entwirft.

Stattdessen kommt es darauf an, auf der Grundlage der gegenwärtig bekannten Bedingungen und Entwicklungstendenzen in der Bundesrepublik die Grundzüge einer realisierbaren sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen. Dabei kann man in dem Maße konkreter werden, wie bereits historische Erfahrungen anderer Revolutionsversuche vorliegen. Zugleich bedeutet dies, dass die programmatische Diskussion in dem Maße weiterentwickelt werden muss, wie veränderte Bedingungen und neue Erkenntnisse dies notwendig machen.

IV. Verschüttete programmatische Ansätze der APO ["Außer-Parlamentarische Opposition"]:
      die Rätediskussion 

Wenn im vorangegangen die These vertreten wurde, dass die Neue Linke praktisch keine Programmatik entwickelt hat, so muss andererseits festgehalten werden, dass es trotzdem verschiedene Ansätze dazu im Laufe der Jahre gegeben hat. Allerdings sind diese Ansätze letztlich nicht weitergeführt worden, sondern als unerledigte Fragen einfach liegengeblieben.

So gab es auf dem Höhepunkt der APO Ende der 60er Jahre die Diskussion um Rätedemokratie, die als Alternative zum parlamentarisch-kapitalistischen System propagiert wurde. In kritischem Bezug sowohl auf den Parlamentarismus als auch auf den organisierten Kapitalismus wurde eine alternative Ordnung skizziert, die sich als Realisierung einer Basisdemokratie auf betrieblicher und lokaler Ebene verstand. Zentrale Stichworte waren z.B.: direkte Demokratie durch imperatives Mandat und jederzeitige Abberufbarkeit; Aufhebung der Trennung von Politik und Ökonomie durch eine einheitliche Produzentendemokratie; Abbau von Bürokratie durch Ämterrotation.

Die Frage ist, warum diese programmatischen Ansätze nicht in einer kontinuierlichen Diskussion überprüft und konkretisiert wurden, sondern schon bald in den Hintergrund gedrängt wurden.

Einer der Gründe hierfür war sicherlich das praktische Scheitern der Basisgruppen-Bewegung. Die propagierten Betriebs- und Stadtteilgruppen hatten schon bald nach der hoffnungsvollen Gründungsphase stagniert, und es stellte sich heraus, dass eine Ausweitung der Bewegung über das Studenten- und das Schüler-Lehrlings-Milieu hinaus nicht in nennenswertem Umfang gelang. In dieser Situation, als die Versuche zu einer breiteren Massenbewegung scheiterten, traten naturgemäß Konzeptionen in den Vordergrund, die - ausgerichtet an historischen Vorbildern - gegenüber der bisherigen "Handwerkelei" - den Schwerpunkt auf die schlagkräftige Organisierung der Aktiven selber legten. Das Gründungsfieber der Kadergruppen grassierte oder aber man orientierte sich wieder stärker an den bestehenden Organisationen der "alten" Linken. Auch die Propagierung des bewaffneten Kampfes ("Sieg im Volkskrieg" ) und die Gründung der RAF fällt in diese Phase erfolgloser Versuche, nennenswerte Teile der Lohnabhängigen zu mobilisieren.

In gewisser Weise war damit auch auf der Ebene der theoretischen Diskussion die autonome Entwicklung der westdeutschen Studentenbewegung abgebrochen. Anstelle einer selbstbewussten, kontinuierlichen Diskussion der eigenen Erfahrungen und Denkansätze suchte man sein Heil in der Anlehnung an erfolgreichere Positionen vergangener Epochen und ferner Länder: autoritätsgläubige Identifikationen mit Personen und Parteien, schematische Nachahmungen ganz andersartiger Bewegungen und eine zu dogmatischen Phrasen erstarrte Sprache beherrschten für längere Zeit die linke Szene. Kein Wunder, dass die Weiterführung der programmatischen Diskussion misslang, wo der Schlagabtausch festgefügter Sekten vorherrschte.

V. Ungeklärte Fragen sozialistischer Programmatik

Dass die gerade in Deutschland sicherlich notwendige Rezeption der internationalen sozialistischen Traditionen nicht zu ihrer produktiven Verarbeitung führte sondern zu entfremdeten Identifikationen mit ihren verschiedenen Traditionsbeständen, dass der Neuen Linken deshalb letztlich keiner der historischen Irrwege erspart geblieben ist, ist jedoch auch ein Indiz für die geringe theoretische Substanz und Einheitlichkeit der Studentenbewegung, die sich bereits mit der Selbstauflösung des SDS ["Sozialistischer Deutscher Studentenbund"] andeutete.

Dies soll anhand der offen gebliebenen Fragen der Rätediskussion verdeutlicht werden, wobei die folgenden Ausführungen nicht so zu verstehen sind, als gäbe es bereits die fertigen programmatischen Antworten, sondern eher als Anstoß dazu, um die programmatische Diskussion wieder in Gang zu bringen. An einigen Punkten soll aufgezeigt werden, inwiefern die basisdemokratischen Vorstellungen - die auch heute noch bzw. wieder eine wichtige Rolle in der praktischen Politik der Linken spielen - vage oder unausgeführt geblieben sind.

VI. Das Verhältnis zu demokratischen Prinzipien und politischen Grundrechten

Ein ungeklärtes Problem ergibt sich aus der Existenz unterschiedlicher politischer Meinungen und Interessen als Frage nach der Art ihrer Artikulation und Organisation. Wollte man diese Möglichkeit nicht entgegen allen gegenwärtigen und historischen Erfahrungen leugnen, so musste man sich genauer mit dem Faktum einer Vielzahl konkurrierender Organisationen auseinandersetzen und man musste klare Aussagen machen zum Recht auf Kritik und Opposition, zur Bildung von Koalitionen und Fraktionen, zu Meinungsfreiheit, Zensur und Zugang zu den Massenmedien, zu freien Wahlen und zum Mehrheitsprinzip.

Dies war umso mehr notwendig, als jede sozialistische Bewegung spätestens seit Stalin von der historischen Erfahrung mitbelastet war, dass sich die "Union der sozialistischen Räterepubliken" als Staat einer autoritär-hierarchischen Einheitspartei entpuppte, in der das Problem unterschiedlicher Meinungen und Interessen nach der Devise gelöst wird, dass nicht sein darf, was nicht sein kann. Dem verbreiteten und auch berechtigten Misstrauen gegenüber der Möglichkeit einer sozialistischen Bevormundung oder Erziehungsdiktatur wurde die Rätediskussion der APO-Zeit nicht gerecht: die Fragen der politischen Grundrechte und demokratischen Prinzipien wurden nicht als eigenes Problem begriffen, sondern sie wurden als von liberalen Kritikern aufgebrachte Probleme - mit der für die damalige Aufbruchsstimmung typischen Mischung aus Defensivhaltung und Arroganz - abgetan. Auch in der gegenwärtigen Situation besteht die Gefahr, dass man in der Abwehr einer zum anti-demokratischen Knüppel umformulierten "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" die Klärung des eigenen Verhältnisses zu den demokratischen Prinzipien und Grundrechten vernachlässigt.

VII. Gesellschaftliche Komplexität und Basisdemokratie

Ein weiterer Problemaspekt, der in der rätedemokratischen Konzeption vernachlässigt worden ist, betrifft die Berücksichtigung der Komplexität moderner industrialisierter Gesellschaften. Die Formel von der "direkten Entscheidung durch die Betroffenen" anstelle von Entscheidungen durch repräsentative oder administrative Organe ist umso schwieriger zu realisieren, je komplexer und differenzierter eine Gesellschaft gegliedert ist und je vielfältiger deshalb auch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bereichen sind.

Von dem, was in einem einzelnen Betrieb oder einer einzelnen Universität geschieht, sind eben nicht nur die dort Arbeitenden und Lernenden betroffen, sondern immer auch andere gesellschaftliche Bereiche und eine kaum zu überblickende Zahl derjenigen, die auf die Produkte des Betriebs bzw. die Qualifikationen der Absolventen und die Forschungsergebnisse der Universität angewiesen sind. Einfache Formen der Basisdemokratie sind zwar geeignet zur Ermittlung und Artikulation von Belegschaftsinteressen (und auch das nur zu wesentlichen Entscheidungen, wie man an der chronisch knappen Zeit auf studentischen Vollversammlungen sieht), sie genügen jedoch nicht zur Koordination und Abstimmung der Entscheidungen, zur Abwägung und Zusammenfassung unterschiedlicher Interessen sowie zur Durchführung und Kontrolle getroffener Entscheidungen. Wenn jedoch die Existenz von repräsentativen und administrativen Organen unter diesen Gesichtspunkten unabdingbar ist, so müssen die programmatischen Diskussionen zu Parlament, Verwaltung etc. von der Linken auf einer konkreteren Ebene wieder aufgenommen werden.

Dies gilt insbesondere für den ökonomischen Bereich, in dem die programmatische Diskussion besonders abstrakt geblieben ist. Die Vorstellung einer unmittelbar auf die Bedürfnisbefriedigung gerichteten Produktion von Gebrauchswerten bleibt leer, wenn man einer Beantwortung der unmittelbar daraus sich ergebenden Fragen ausweicht: Wie sollen die Bedürfnisse ermittelt werden? Wie soll die Dringlichkeit verschiedener Bedürfnisse gegeneinander abgewogen werden, wenn die Kapazitäten nicht zur Befriedigung aller Bedürfnisse ausreichen? Wie werden die unterschiedlichen Interessen von Produzenten und Konsumenten eines Produkts aufeinander abgestimmt? Wie wird die gesamtgesellschaftliche Planung mit den autonomen Entscheidungen von Kollektiven und Individuen abgestimmt?

Auch die Diskussion zur "Übergangsgesellschaft" hat hinsichtlich der ökonomischen Programmatik kaum Fortschritte gebracht. Die Kritik an den Wirtschaftsreformen der osteuropäischen Länder blieb ohne konstruktives Resultat, da man sich - ähnlich wie beim Konzept der Basisdemokratie - auf eine genauere Diskussion der Funktionsprobleme postkapitalistischer Wirtschaftssysteme in der Regel gar nicht einließ.


VIII.  Die Zuflucht zum utopischen Menschenbild

In diesen Zusammenhang gehört auch ein weiteres ungeklärtes Problem, das die innerlinken Programmdiskussionen ständig belastet hat, ohne dass hier ernsthafte Anstrengungen gemacht wurden. Gemeint ist die Frage nach dem "Menschenbild", das den programmatischen Vorstellungen - meist stillschweigend – zugrunde liegt. Aus der berechtigten Kritik an Positionen, die den durch Konkurrenz und Hierarchie geprägten kapitalistischen Sozialcharakter zur ewigen Menschennatur hochstilisieren wollen, wurde häufig der Umkehrschluss gezogen, der Mensch sei in seiner "eigentlichen" Bedürfnis- und Motivationsstruktur ein völlig soziales und moralisches Wesen und Probleme wie die Durchsetzung des individuellen Interesses auf Kosten anderer oder Gruppenegoismen familiärer, nationaler und ethnozentrischer Art seien höchstens als "Muttermale" der alten Gesellschaft relevant.

Hieraus mögen sich die programmatischen Leerstellen der Linken immer dort erklären, wo es um die Bekämpfung von Verhaltensweisen geht, die mit dem gesamtgesellschaftlichen Interesse unvereinbar sind, seien es Probleme mangelnder Arbeitsmotivation, bürokratischer Bequemlichkeit, persönlichen Machtstrebens, mangelnden Interesses und Einsatzes für öffentliches Angelegenheiten, Beschädigung oder Vergeudung öffentlichen Eigentums oder auch allgemein-krimineller Verhaltensweisen geht.

Anstatt diese Phänomene zu ignorieren bzw. mit dem bequemen Hinweis abzutun, dass sie sich dadurch erledigen werden, dass mit der neuen Gesellschaft auch ein ganz anderer Menschentypus entstehen wird, wären in der programmatischen Diskussion Fragen nach demokratisch legitimierbaren Kontroll- und Sanktionsformen explizit aufzunehmen, die sich auf wissenschaftlich begründbare Annahmen hinsichtlich der Veränderbarkeit menschlicher Motivationsstrukturen stützen. Nur dann kann auch das Schicksal vergangener sozialistischer Revolutionen vermieden werden, in denen angesichts enormer Probleme "egoistischen" Verhaltens die linken Utopisten - nicht ganz ohne Grund - diktatorisch regierenden Bürokraten Platz machen mussten.

IX.  Schlussbemerkung

Mit diesen drei Fragebündeln an eine zu entwickelnde linke Programmatik:
   1. Verhältnis zu demokratischen Prinzipien und Grundrechten,
   2. Berücksichtigung der Komplexität industrialisierter Gesellschaften und
   3. Bezugnahme auf ein realistisches Menschenbild
sind natürlich die offenen Fragen einer sozialistischen Programmatik keineswegs erschöpfend benannt. Sie sollen hier nur als beispielhafte Anstöße für eine Wiederaufnahme der Diskussion gelten. Allerdings müssen zu diesen drei Fragekomplexen Antworten gefunden werden, wenn man über die vagen und vieldeutigen Formeln hinauskommen will. Die Konkretisierung ihrer eigenen Vorstellungen darüber, wie Politik und Ökonomie in einer sozialistischen Gesellschaft beschaffen sein sollen, ist für die emanzipatorische Linke ein unerlässlicher Schritt, um zumindest langfristig zu einem relevanten Faktor in den politischen Auseinandersetzungen zu werden. Die Konkretisierung der programmatischen Vorstellungen ist zugleich auch ein Mittel gegen jene terroristische Un-Politik, für die der politische Kampf um eine sozialistische Zukunft zu einer perspektivlosen Rache an den "Repräsentanten des Systems" degeneriert. Die zweifelhafte Genugtuung darüber, auch einmal einige Mächtige vernichtet zu haben, muss eine zukunftsbezogene Arbeit ersetzen.

***



Sozialismus - mit falschen Voraussetzungen


(2003 - Nach 35 Jahren)

 

Man soll keine Leichenfledderei betreiben. Und warum jetzt noch, wo der groß angelegte Versuch, den Sozialismus zu verwirklichen, am Ende ist, warum jetzt noch über den gescheiterten Versuch herziehen? Bin ich noch einer, der sein Mäntelchen nach dem Wind hängt? Auch wenn die Situation zweideutig ist, um eines bewussten Lernprozesses willen muss ausgesprochen werden, wo sich die Sozialisten geirrt haben.

Der Sozialismus ist erst einmal eine sympathische Idee: die Menschen sollen als Gleiche unter Gleichen brüderlich zusammenleben, sie sollen die Güter der Erde und die technischen Produktionsmöglichkeiten als ihr gemeinsames Eigentum ansehen, sie sollen ihre Fähigkeiten zum Wohle der Gemeinschaft einsetzen und sollen die Früchte ihrer gemeinsamen Arbeit solidarisch gemäß der Bedürftigkeit aufteilen.

Ein solcher hier in groben Umrissen gekennzeichneter Sozialismus hat als Idee seine Anziehungskraft, vor allem auf dem Hintergrund einer an der Hilfe für die Schwachen und Armen orientierten christlichen Tradition und vor allem auch für die Jüngeren, die noch nicht so sehr wie die Älteren errungene Positionen in der sozialen Hierarchie und angehäuftes Vermögen zu verteidigen haben.

Und die Idee des Sozialismus gewinnt umso mehr an Glanz, je problematischer sich die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gerade darstellt.

Trotzdem: Der sympathische Glanz der sozialistischen Idee steht auf brüchigen Füßen, weil er von falschen Voraussetzungen ausgeht und sich nicht in der erhofften Weise realisieren lässt.

Die Realisierung der sozialistischen Gesellschaft aus gemeinschaftlich arbeitenden und wirtschaftenden Genossen scheitert an falschen Annahmen über die Menschen, über ihre Motive und Verhaltensweisen.

Schon im zentralen programmatischen Satz des Kommunismus: "Jeder (arbeitet) nach seinen Fähigkeiten! Jedem (wird) nach seinen Bedürfnissen (zugeteilt)!" wird die Schwachstelle der sozialistischen Konstruktion deutlich.

Es ist die Rede von den Fähigkeiten der Menschen, zu arbeiten, es ist jedoch nicht die Rede davon, wodurch die Menschen motiviert werden können, die Mühsal auf sich zu nehmen, diese Fähigkeiten in jahrelangem Lernen auszubilden und sie hart arbeitend einzusetzen.

Zum andern ist die Rede von den Bedürfnissen der Menschen, die zu ihrer Befriedigung die erarbeiteten Produkte und Dienste anderer Menschen benötigen. Wiederum ist nicht die Rede davon, wie die Menschen motiviert werden können, von den geschaffenen Gütern einen sparsamen und schonenden Gebrauch zu machen.

Die Natur des Menschen war der weiße Fleck auf der Landkarte der meisten Sozialisten. Wer nur davon sprach, machte sich schon des "Biologismus" schuldig. Nach Marx war der Mensch nichts anderes als "das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", ein Produkt der jeweiligen Gesellschaftsformation.

Aber - wie sich herausstellte: auch nach der Revolution blieb das Eigeninteresse wirksam. Dies wurde als Überbleibsel der alten, bürgerlichen Gesellschaft abgetan. Mit der Entwicklung des neuen sozialistischen Menschen würde das verschwinden. Aber diese Verhaltensweisen verschwanden nicht. Im Gegenteil. Sie bremsten den revolutionären Schwung. Die Helden der Arbeit waren in den Sonntagsreden der Parteigrößen zu finden, aber nicht in den Fabriken und Büros.

Jeder sah eine Schicht von Funktionären, die sich mit allen begehrten Konsumgütern aus kapitalistischer Produktion versorgten, und jeder sah, dass die eigenen Arbeitsanstrengungen letztlich nicht viel einbrachten - jedenfalls nicht so viel wie Linientreue und Parteiposten. Kreativität, Kritik und Erfindergeist waren nicht gefragt, denn sie brachten eher ein Element der Unruhe in die Verhältnisse, die ihren geordneten sozialistischen Gang gingen und gehen sollten.

Und so wurden die Entwicklungen in den Informationswissenschaften und in der Mikroelektronik verschlafen und die Länder des realen Sozialismus gerieten wirtschaftlich und waffentechnisch ins Hintertreffen. Eine Wirtschaft nach Art der deutschen Reichspost, wie sie Lenin vorschwebte, war nicht wettbewerbsfähig, sie löste sich auf.

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"Whenever it ceases to be true that mankind, as a rule, prefer themselves to others, and those nearest to them to those more remote, from that moment Communism is not only practicable, but the only defensible form of society." (John Stuart Mill)

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An einen Anhänger des Marxismus-Leninismus


(Ein teils ironischer, teils ernsthafter Beitrag in einer Internet-Diskussion)

 
Zur "historischen Mission der Arbeiterklasse und ihrer (kommunistischen) Partei"

Als erstes finde ich es beruhigend, dass Du mir versicherst, dass niemand mir meine Demokratie wegnehmen will. Denn ich war mir nicht ganz sicher, ob ich in der von Dir angestrebten Gesellschaft noch meine Gedanken veröffentlichen dürfte, da sie sich auch kritisch gegen marxistische Thesen richten. Aber wahrscheinlich stellt sich dies Problem gar nicht, weil mein Denken zwar gegenwärtig noch "den Gesetzen des sich selbst verwertenden Werts" gehorcht, aber mein Bewusstsein nach dem Übergang zur kommunistischen Produktionsweise von dieser bestimmt sein wird: die "eigennützigen Interessen des privaten Individuums" habe ich dann abgestreift zugunsten der gesellschaftlichen Interessen eines gesellschaftlichen Individuums. 

Du hast meine aufkommenden Bedenken zerstreut durch deine Aussage, dass in der kommunistischen Gesellschaft "mündige Menschen ihr gemeinsames Leben vernünftig organisieren".

Beunruhigen könnte mich vielleicht, dass diese vernünftige Organisation nur in der kommunistischen Gesellschaft möglich sein soll. Was habe ich denn für die Zeit bis dahin politisch zu erwarten? Etwas mulmig wird mir, wenn Du sagst, dass Du "nur insoweit Anhänger einer Demokratie bist, soweit sie eine kommunistische ist". Ich könnte mich also nicht mehr auf irgendwelche demokratischen Rechte wie freie Diskussion und freie Wahlen und das Recht auf die Organisierung einer Opposition berufen, wenn Du und Deine gleich gesinnten Weggefährten einmal an die Macht kommen sollten?

Es wäre allerdings wohl auch naiv von mir, an der bloß "formalen Demokratie" festhalten zu wollen, wo es doch auf eine inhaltliche Demokratie ankommt, und die ist nun mal so lange nicht möglich, wie die die privatwirtschaftliche Produktionsweise nicht abgestreift ist.

Wahrscheinlich ist mein Gejammer über die Verletzung demokratischer Grundrechte auch wirklich nur ein Restbestand meines bürgerlichen Denkens.

Eigentlich habe ich ja keinen Grund mich zu beklagen, wenn nun Leute das Sagen haben, die wissen "was Demokratie seinem Begriff nach sein will" und die das Gesetz des sich selbst verwertenden Wertes durchschaut und ihm den Kampf angesagt habe. Was soll da das Greinen über den Verlust formaler demokratischer Rechte, wo doch ohnehin in der privatwirtschaftlichen Produktionsweise die "Regierenden nichts weiter als Anhängsel einer kapitalistischen Nationalökonomie" waren und die demokratische Willensbildung dadurch charakterisiert wurde, dass die Beherrschten "sich nicht entblöden, jeder totalitären Dummheit der Regierenden das Wort zu reden". In Wirklichkeit hatte ich doch nichts zu verlieren – höchstens die Scheinfreiheit, meine irrigen Gedanken zu veröffentlichen. Oder?

Aber nun ernsthaft:

Es gibt die leidvollen Erfahrungen mit kommunistischen Parteien, die sich selbst zur "Avantgarde der Arbeiterklasse" erklärten und die vorgaben, mit den Lehren von Marx und Engels über eine "wissenschaftliche Weltanschauung" als Grundlage ihrer Politik zu verfügen.

Mit ihrer Interpretation von Geschichte als einer Geschichte der Klassenkämpfe rechtfertigten die Kommunisten die von ihnen praktizierte Diktatur des Proletariats als Antwort auf die Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Das Ergebnis dieses wissenschaftlichen Sozialismus war die Unterdrückung jeglicher innerkommunistischer Abweichungen von der offiziellen Linie der Partei (Trotzki, Bucharin, Havemann etc.) als auch die Verfolgung "bürgerlicher Ideologien" jeglicher Spielart.

Wir können heute nicht so blauäugig sein und so tun, als hätte es das alles nicht gegeben, und ich werde hellhörig bei Formulierungen, die den altbekannten Mustern entsprechen:

- z. B. die Kennzeichnung der bestehenden Demokratie als bloß formal - Wenn die Inhalte der Politik an anderer Stelle festgelegt werden, dann braucht man allerdings solche demokratischen "Formalien" wie geheime Wahlen nicht mehr, 

- z. B. die Kennzeichnung des bestehenden demokratischen Staates als Anhängsel der kapitalistischen Wirtschaft – woraus folgt, dass Bundestagswahlen, Kanzlerwahlen oder ähnliches bloßer Mummenschanz sind,    

- z. B. die Kennzeichnung der Wähler als unwissende Masse, die nachplappert, was ihnen von der Regierung und den Medien vorgesagt wird – woraus folgt, dass man bei politischen Entscheidungen auf die Meinungen in der Bevölkerung keine Rücksicht nehmen darf, denn Unmündige muss man bevormunden,

- z. B. die Kennzeichnung der bestehenden Interessen und Wünsche der Individuen als privat und deshalb falsch – woraus folgt, dass es offenbar jemanden gibt, der die wahren Interessen der Individuen besser kennt als sie selbst,  

- z. B. die prinzipielle Ablehnung der Verbindlichkeit mehrheitlich beschlossener Gesetze – die ihre theoretische Grundlage offenbar in der Auffassung hat, dass in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung alle staatlichen Gesetze und Entscheidungen nur das Interesse der herrschenden Kapitalistenklasse ausdrücken. Ob Bundesrepublik Deutschland oder Großdeutsches Reich, das macht dann keinen wesentlichen Unterschied, denn beides sind nur verschiedene Erscheinungsformen desselben: der kapitalistischen Klassenherrschaft.

***


 

Leserbrief


zum Artikel von Jörg Schönbohm im TAGESSPIEGEL vom 09.03.2008 (ungekürzt)

 

Um es vorweg zu sagen: Ich bin Partei, wenn es um die Studentenbewegung der 60er Jahre geht, denn ich gehörte zu dieser Bewegung. Aber heute, vier Jahrzehnte danach, sollte es möglich sein, deren Verdienste und auch deren Irrwege einigermaßen unvoreingenommen zu erörtern.

Davon ist der Artikel "1968 – Selbstbetrug einer Generation" im TAGESSPIEGEL vom 09.03.08 allerdings weit entfernt, denn sein Verfasser, Jörg Schönbohm, lässt – wie man so sagt – "kein gutes Haar" an der damaligen Studentenbewegung.

Der Artikel zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Unfähigkeit zum differenzierten Denken und Urteilen aus.

Die Studentenbewegung, in der sich sehr unterschiedliche Positionen zusammenfanden, ist für Schönbohm ein einheitliches Gebilde, innerhalb dessen es keine Richtungskämpfe und Personen mit unterschiedlichen Konzeptionen gab. In dem langen Artikel wird bezeichnender Weise nicht ein einziges Mal eine konkrete Person oder Organisation genannt, die an dieser Bewegung beteiligt war. Stattdessen belegt Schönbohm die damalige Studentenbewegung pauschal mit inhaltlich unpräzisen aber hochgradig wertgeladenen Ausdrücken wie:  "Protestler", "Jungrevolutionäre", "selbsternannte Gesellschaftsveränderer", "Achtundsechziger-Ideologen", "Weltverbesserer", "weinselige Toskana-Fraktionäre" oder "Nachwuchs-Revoluzzer".

Der Artikel zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass er seine durchgängigen Verallgemeinerungen nicht anhand von realen Beispielen konkretisiert, sondern stattdessen höchstens durch mehr oder oft auch weniger passende Grafitti-Sprüche belegt.

Was soll man zu einer pauschalen Abqualifizierung sagen wie: "Ihnen ging es nicht um die Veränderung aus Vernunft, sondern um die Veränderung aus Prinzip", wenn dieser Rundumschlag nicht näher begründet wird?

Kein Wort findet sich in dem Artikel zu den unterschiedlichen inhaltlichen Punkten, an denen sich der Protest entzündete: In Berlin z. B. die Weigerung des Präsidenten der Freien Universität, einen Raum der Universität für einen Vortrag des gesellschaftskritischen Publizisten Erich Kuby zur Verfügung zu stellen, in den USA der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg, in Frankreich die sexualfeindliche Hausordnung eines Studentenwohnheims.

Was soll man zu Thesen sagen wie: "Im Kampf gegen das Establishment waren eher Pflastersteine denn das Florett die Waffe der Wahl"? Bedauert Schönbohm, dass die Schlagenden Verbindungen und deren "Schmisse" im Gesicht für die neue Generation von Studenten nicht mehr attraktiv waren? Hat er nichts mitbekommen von den intensiven Diskussionen innerhalb der Studentenbewegung über Gewalt, die u. a. dazu führte, dass sich die Grünen später ausdrücklich als "gewaltfrei" bekannten?

Die markigen Urteile, die Schönbohm in dem Artikel aneinander reiht, scheinen nicht immer auf Kenntnis der betreffenden Sache zu beruhen. Als Beleg für die obige Pflastersteinthese führt Schönbohm einen Grafitti-Spruch an und schreibt dazu: "Passend reimte der Sponti-Dichter: 'Der Stein bestimmt das Bewusstsein’ ". Aber hier wird nichts gereimt, sondern dies ist eine witzige, wenn auch problematische Umformulierung des materialistischen Credos "Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein".

Ähnlich verbohrt deutet Schönbohm andere Sprüche dieser Zeit. "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" war ein humorvoller, augenzwinkernder Spruch, der nicht so bierernst genommen werden wollte. (Das durchschnittliche Alter der Studenten beim ersten Geschlechtsverkehr lag damals bei 22 Jahren.) Wenn man bedenkt, dass noch in den 60er Jahren der Bundespräsident Heinrich Lübke im Zuge der Restauration christlich-abendländischer Werte das Verbot von öffentlichen Kondom-Automaten forderte, musste ein solcher Spruch allerdings zutiefst schockieren.

Fast schon komisch wirkt es, wie Schönbohm ein anderes Problem der Studentenbewegung in die Schuhe schiebt, wenn er schreibt: "Alte und Gebrechliche werden aus unserem Lebensalltag verbannt und abgeschoben. … Auch hier hatten die Achtundsechziger die passende Losung zur Hand: 'Trau keinem über Dreißig' ".

Diese nicht ganz ernstgemeinte Parole von Studenten, die ja in wenigen Jahren selber über 30 sein würden, hatte rein gar nichts mit dem Elend in manchen Pflegeheimen zu tun. Der ernste Hintergrund dieser Parole war die meist nicht übernommene Verantwortung der Elterngeneration für die entsetzlichen Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 im deutschen Namen begangen worden waren.

Wenn Schönbohm der Studentenbewegung schließlich auch die "Verordnung einer politisch korrekten Sprache" anhängen will, dann sollte er sich an die sprachlichen Eiertänze im Zuge der Hallstein-Doktrin (Ablehnung der Existenz von zwei deutschen Staaten) erinnern. Man durfte nicht von der DDR sprechen sondern nur von der "sogenannten DDR" oder der "DDR" (in Anführungsstrichen). Man hatte zu schreiben: "Berlin (West)" aber nicht "Westberlin".

Mit dieser Abwehr von Schönbohms unqualifizierter Kritik an der Studentenbewegung sollen nicht die Verbrechen der Überzeugungstäter in der RAF und nicht die Träume der Maoisten und Leninisten von der Parteidiktatur entschuldigt werden. Auch wenn Jörg Schönbohm davon noch nichts mitbekommen hat: Die Aufarbeitung der Irrwege und Fehlentwicklungen der 68er-Bewegung findet statt.

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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Texte aus der Zeit der 68er Bewegung"
Letzte Bearbeitung 02.06.2010 / Eberhard Wesche

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