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Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von Normen

Dieser Text erschien unter dem Titel "Wahrheit und Verbindlichkeit von Normen" zuerst in
 K.-P. Markl (Hrsg.): Analytische Politikphilosophie und ökonomische Rationalität Band 1, Westdeutscher Verlag Opladen 1985

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Inhalt:
I. Kognitivismus und Dezisionismus in der Ethik
II. Probleme des Dezisionisten
III. Probleme der Kognitivisten
IV. Probleme der Diskurstheorie
V. Die Notwendigkeit normsetzender Institutionen
VI. Das Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher Richtigkeit und formaler Verbindlichkeit von Normen

Anmerkungen / Literatur

(Kurze Einführung in das Thema)

Textanfang

I. Kognitivisten und Dezisionisten in der Ethik

Durch die Geschichte der normativen Theoriebildung zieht sich ein grundlegender Gegensatz: auf der einen Seite stehen diejenigen, die Normen vor allem als Behauptungen auffassen, die wahr oder falsch sein können. Diese Gruppe könnte man als "Kognitivisten" bezeichnen, insofern für sie die Bestimmung wahrer Normen ein Problem der Erkenntnis oder "Kognition" ist, ähnlich dem Problem der Bestimmung wahrer empirischer Aussagen.

Auf der andern Seite stehen diejenigen, die Normen vor allem als Setzungen auffassen, die weder wahr noch falsch sein können, sondern denen eine Geltung bzw. Verbindlichkeit allein kraft verfahrensmäßiger Setzung zukommt. Diese Gruppe könnte man als "Dezisionisten" bezeichnen, insofern für sie die Geltung von Normen sich auf letztlich nicht mehr hinterfragbare Setzungen bzw. Entscheidungen (Dezisionen) gründet. Dabei sind die Bezeichnungen der beiden theoretischen Grundhaltungen als "kognitivistisch" oder "dezisionistisch" als praktische Kurzformeln gedacht und decken sich nicht notwendig mit dem sonstigen Sprachgebrauch.

Der Gegensatz zwischen einer "kognitivistischen" und einer "dezisionistischen" Grundhaltung in normativen Fragen findet sich mehr oder weniger ausdrücklich wieder etwa in den Kontroversen zwischen Naturrechtstheoretikern
und Rechtspositivisten, zwischen Utilitaristen und Vertragstheoretikern oder auch zwischen den deutschen Diskurstheoretikern und ihren Kritikern.

Dabei lässt die Hartnäckigkeit, mit der sich beide Grundpositionen über die Zeit behaupten, die Vermutung zu, dass beide Seiten mit ihrer Kritik an der Gegenseite zumindest eine gewisse Berechtigung haben und dass weder die kognitivistische noch die dezisionistische Position ohne Abstriche durchzuhalten ist.


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II. Probleme des Dezisionisten

Die Probleme der dezisionistischen Grundposition sollen hier nur kurz skizziert werden. Wenn ich einen Dezisionisten frage, warum ich eine bestimmte eine Norm befolgen soll, so kann dieser nur auf das im gegebenen Fall praktizierte Verfahren der Normsetzung verweisen und z. B. sagen: "Du sollst die Norm befolgen, weil wir es so vereinbart haben" oder "... weil es geltendes Recht ist" oder "... weil es Gottes Gebot ist".

Wenn auf das Verfahren der Normsetzung verwiesen wird, so kann man jedoch weiter fragen, warum man denn die Resultate des betreffenden Verfahrens anerkennen soll. Wenn der Dezisionist jetzt auf übergeordnete Verfahren verweist und z. B. sagt "... weil dies der geltenden Verfassung entspricht", so verschiebt er das Problem der Begründung nur auf diese Verfahren, ohne es jedoch zu lösen.

Entweder bricht der Dezisionist die Begründung irgendwo ab - so wie z. B. Kelsen, der die Anerkennung einer Grundnorm voraussetzt, von der dann die Geltung aller anderen Rechtsnormen hergeleitet wird1). Dies wäre Dezisionismus im engeren Sinne.

Oder aber die Verbindlichkeit des Verfahrens wird letztlich mit der Zustimmung des betreffenden Individuums begründet, also mit einem Versprechen bzw. einer Vereinbarung (Konvention), dass es die gesetzten Normen befolgen wird. Diese Position, die alle Geltung von Normen letztlich auf eine Selbstverpflichtung der Individuen zurückführen will, könnte man als "Konventionalismus" bezeichnen. 2)

Wird dabei die Zustimmung als faktisch vollzogen interpretiert - wie z. B. bei Tussman 3) - so bleibt letztlich die Frage, warum man gegebene Versprechen halten soll. Dass die Befolgung von Versprechen weder logisch noch intuitiv zwingend ist, zeigt sich bereits daran, dass man darüber, unter welchen Bedingungen ein Versprechen ungültig sein soll, geteilter Meinung sein kann. Wie stark darf etwa der "stumme Zwang der Verhältnisse" ein Individuum bedrängen, ohne dass seine "Zustimmung" zur Farce wird? Dies sind normative Fragen, auf die der Konventionalist eine begründete Antwort schuldig bleiben muss.

Hinzu kommt als Schwierigkeit dieser Position, dass die "faktische Zustimmung" oft eher gewaltsam in das Verhalten der Individuen hineininterpretiert werden muss, da diese Zustimmung von denen, die in bestehende normative Ordnungen hineingeboren werden, meist gar nicht explizit gegeben wird.

Will der Konventionalist zur Vermeidung dieser Schwierigkeiten jedoch die Zustimmung des Individuums nur als die in einer fiktiven Situation zu erwartende Zustimmung verstanden wissen - so wie etwa Rawls, der von der fiktiven Zustimmung in der "original position" ausgeht
5) - so nähert sich der Dezisionist der kognitivistischen Position an, insofern der Setzungscharakter der Normen dann zurücktritt zugunsten einer von Zwangsverhältnissen und verzerrenden Eigeninteressen möglichst befreiten Argumentationssituation, wie sie für die Wahrheitssuche charakteristisch ist.

Soweit die Skizze der dezisionistischen Grundposition und ihrer Probleme.


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III. Probleme der Kognitivisten

Auch kognitivistische Positionen haben ihre z. T. altbekannten Probleme. So tut sich der Kognitivist, für den die richtige und damit zu befolgende Norm durch argumentative Wahrheitssuche zu bestimmen ist, gewöhnlich schwer mit der Interpretation einer Normsetzung durch Verfahren wie Vertrag, Versprechen, Mehrheitsbeschluss oder autorisierten Befehl.

Dies kann etwa am Utilitarismus demonstriert werden. Wenn man unter "Utilitarismus" die Forderung versteht, immer so zu handeln, dass der Nutzen für die Gesamtheit möglichst groß wird, so hat das, wie Brandt schreibt, "schwer akzeptierbare Konsequenzen. Es impliziert, dass man, wenn man einen Jungen zum Rasenmähen angestellt hat und dieser nach Beendigung der Arbeit nach seiner Bezahlung fragt,  ihm nur dann die versprochene Bezahlung geben soll, wenn man keine bessere Verwendung für sein Geld finden kann." 6)

Diese und ähnliche Kritiken haben verschiedene Theoretiker dazu geführt, anstelle dieses auf einzelne Handlungen bezogenen "Handlungs-Utilitarismus" Varianten eines "Regel-Utilitarismus" zu entwickeln, bei dem die Frage nach dem Nutzen für die Gesamtheit nicht auf die einzelne Handlung bezogen wird, sondern auf die generelleren Regeln des Handelns, die ihrerseits dann in jedem Einzelfall verbindlich sind. 7)

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Argumentation von Rawls in dem frühen Text "Two Concepts of Rules".8) Nach Rawls muss man zwischen der Rechtfertigung einer einzelnen Handlung und der Rechtfertigung einer Institution unterscheiden. Danach ist die Anwendung utilitaristischer Überlegungen auf die Rechtfertigung der Institution "Versprechen" sinnvoll, sie ist jedoch nicht zulässig bei der Frage, ob man ein einzelnes Versprechen halten soll oder nicht. ".. Das Entscheidende an der Institution (des Versprechens, E.W.) besteht darin, dass man seinen Rechtsanspruch aufgibt, gemäß utilitaristischen oder eigeninteressierten Erwägungen zu handeln, um die Zukunft festlegen und Pläne vorausschauend koordinieren zu können. Es bestehen klare utilitaristische Vorteile darin, eine Institution zu haben, die es dem Versprechenden zur Entschuldigung (der Nichteinhaltung eines Versprechens, E.W.) versagt, irgendwie allgemein an das utilitaristische Prinzip zu appellieren, durch das die Institution selber gerechtfertigt wird. .. Verschiedenste Entschuldigungen sind für die Nichteinhaltung eines Versprechens zulässig, aber darunter befindet sich nicht die, dass der Versprechende (wahrhaftig) meinte, seine Handlung sei entsprechend allgemein utilitaristischen Gesichtspunkten die beste." 9)

Rawls weist hier auf ein wichtiges Problem hin, das allerdings kein spezielles Problem des Utilitarismus ist, sondern das sich für jede kognitivistische Theorie stellt. Wie oben bereits ausgeführt, fassen kognitivistische Theorien Normen als Behauptungen auf, deren Wahrheit sich im Prinzip argumentativ erweisen lassen muss. Sie versuchen, von methodologischen Regeln der Argumentation - wie z. B. dem utilitaristischen Kalkül - unmittelbar zu inhaltlichen Handlungsnormen zu gelangen.

Insofern jedoch über die wahre oder richtige Norm keine Einigkeit zwischen den Individuen besteht, ist es problematisch, wenn die Individuen ihre normativen Überzeugungen zum Kriterium ihres Handelns erheben.

Überall, wo es auf das richtige Zusammenwirken der Individuen ankommt - und das ist in den wichtigsten Lebensbereichen der Fall - ist es problematisch, wenn jeder nach seinen eigenen normativen Überzeugungen handelt. Denn bei unterschiedlichen Überzeugungen durchkreuzen die Individuen mit ihren Handlungen dann wechselseitig ihre Pläne, so dass schließlich selbst bei bestem Willen aller Beteiligten kein Individuum seine normativen Überzeugungen realisiert.

Eine gewisse Milderung des Problems könnte man eventuell dadurch erreichen, dass jeder die abweichenden Überzeugungen der andern Individuen bei seinen Überlegungen in Rechnung stellt. Ein solcher wechselseitiger Abstimmungsprozess wirft allerdings erhebliche Probleme auf, denn um seine eigene Überzeugung vom richtigen Handeln bilden zu können, muss man zuvor wissen, welche Überzeugungen die andern haben - und denen geht es ebenso. Es gibt dann keine Überzeugungen, von denen man als gegeben ausgehen kann - eine Situation ähnlich der von Spieltheoretikern analysierten strategischen Ungewissheit.

Abgesehen von diesem Problem ist der unmittelbare Übergang von der individuellen Überzeugung zum Handeln jedoch für die soziale Koordination vor allem deshalb problematisch, weil sich die Überzeugungen der Individuen im Laufe der Zeit ändern können. Wenn Individuum A heute noch davon überzeugt ist, dass der Handlungsverlauf x der richtige ist, so kann es morgen schon y für richtig halten. Damit werden aber die Pläne aller andern Individuen hinfällig, die noch davon ausgingen, dass Individuum A den Handlungsverlauf x ausführen wird. Eine Koordination der individuellen Pläne wird unmöglich.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die aufgezeigte Problematik völlig unabhängig davon ist, ob man das utilitaristische Kalkül auf einzelne Handlungen anwendet oder auf generelle Handlungsregeln. Die Koordinationsprobleme würden auch dann auftreten, wenn die Individuen gemäß ihren Überzeugungen bezüglich der Handlungsregeln handeln. Denn auch für diese Überzeugungen gilt, dass sie sich ändern können und dass man sich darauf nicht unbedingt verlassen kann.

Abhilfe können hier nur Normsetzungsverfahren schaffen, die auch gegenüber Individuen mit abweichenden Überzeugungen Verbindlichkeit beanspruchen.

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IV. Probleme der Diskurstheorie

Diese Problematik betrifft auch die Diskurstheorie. Diese postuliert - bei Anerkennung der logischen Unterschiede zwischen positiven und normativen Behauptungen - auch für die letzteren die "Wahrheitsfähigkeit". Wahrheit kommt all jenen Behauptungen zu, denen in einem rein argumentativen, herrschaftsfreien Diskurs jedermann zustimmen kann. 10)

Wenn man der Diskurstheorie folgend "Wahrheit" als argumentative Konsensfähigkeit auffasst, so wird besonders deutlich, dass es problematisch ist, von der Ebene der Wahrheitssuche unmittelbar zur Handlung überzugehen. Der Diskurs muss nämlich, um mit Habermas zu sprechen, "handlungsentlastet" sein 11). Er darf nicht unter dem Druck stehen, für das konkrete Handeln in einer bestimmten Situation eine normative Entscheidung zu erbringen.

In konkreten Handlungssituationen besteht häufig ein Zeitdruck: wo schnell gehandelt werden muss, müsste ein Diskurs sofort wieder abgebrochen werden. Insofern für den Diskurs und seine Regeln allein das Ziel der Wahrheitssuche gilt ("Suche bei deinen Fragen nach Antworten, denen jedermann allein aufgrund von Argumenten zustimmen kann!"), werden andere Gesichtspunkte wie die Begrenzung des Entscheidungsaufwand oder eine zeitliche Begrenzung nicht berücksichtigt.

Da außerdem das Kriterium der Wahrheit kein faktischer sondern nur ein potentieller Konsens bei idealen Argumentationsbedingungen sein kann, garantiert der Diskurs als Verfahren auch kein definitives Ergebnis. Jede Behauptung, für die Wahrheit beansprucht wird, kann jederzeit durch das Auftauchen neuer Argumente wieder problematisiert werden.

Es kann auch ohne weiteres der Fall sein, dass die vorhandenen Argumente nicht ausreichen, um begründete Schlüsse hinsichtlich der Wahrheit einer Behauptung zu ziehen, so dass verschiedene Positionen rational vertretbar bleiben. In all diesen Fällen ergibt sich aus dem Diskurs keine eindeutige Norm, die alle Individuen ihrem Handeln zugrunde legen könnten. Die Aufforderung an jedes Individuum, gemäß den wahren Normen zu handeln, kann deshalb - auch beim besten Willen aller Beteiligten - keine Koordination der individuellen Handlungen garantieren.


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V. Die Notwendigkeit normsetzender Institutionen

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass es sinnvoll ist, zusätzlich zum Diskurs besondere Normsetzungsverfahren zu haben, die verbindliche normative Entscheidungen erzeugen. Die Individuen sind dann aufgefordert - unabhängig von ihren möglicherweise abweichenden Überzeugungen -  diese Normen als für sie verbindlich anzusehen und zu befolgen. Dabei schaffen diese Normsetzungsverfahren für die resultierenden Normen eine Verbindlichkeit, die sich nicht mehr aus dem Anspruch auf inhaltliche Wahrheit herleitet, sondern die sich stattdessen "formal" aus den gültigen Normsetzungsverfahren herleitet.

Die Pflicht zur Befolgung verbindlich gesetzter Normen ist also von ganz anderer Art als die von den Kognitivisten postulierte "Pflicht", entsprechend den inhaltlich als richtig erkannten Normen zu handeln.

Ansätze zu einer derartigen Unterscheidung der Ebenen der Wahrheit und der Verbindlichkeit von Normen hat es verschiedentlich gegeben, wobei sich die Kritik an einseitig kognitivistischen oder dezisionistischen Auffassungen vor allem am Begriff der Pflicht (duty, obligation) entzündete.

Insbesondere  H.L.A. Hart hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es verschiedene Typen des moralischen Urteils gibt und dass es "ohne Zweifel in der Philosophie die ständige Versuchung gibt, alle Typen des moralischen Urteils einem einzigen Typus anzugleichen." 12) Insbesondere der Begriff der Pflicht ist seiner Meinung nach von den Moralphilosophen in einem so weiten Sinne gebraucht worden, dass der Unterschied zum einfachen moralischen Sollen völlig verwischt wurde. "Es ist absurd zu sagen, man habe eine moralische Pflicht, kein anderes menschliches Wesen zu töten, oder eine Verpflichtung, kein Kind zu quälen. .. Die Ausdehnung dieser Begriffe auf das ganze Feld der Moral macht uns blind für dessen Vielfalt und Komplexität. .. Der Grund dafür, dass der Unterschied verwischt zu werden droht, liegt darin, dass 'sollen' ... gebraucht werden kann sowohl um andere davon abzuhalten, ihre Versprechen zu brechen, als auch davon, Kinder zu quälen." 13)

Dass der Begriff der "Pflicht" oder "Verbindlichkeit" eine besondere Art des Sollens ausdrückt, ist auch von anderen Autoren betont worden. So schreibt G. J. Warnock: "Es gibt eine Unterscheidung zwischen denjenigen Dingen, die ich zu tun verpflichtet bin, und denjenigen, die ich bloß aus bestimmten Gründen tun soll. Wenn ich gelegentlich nicht tue, was ich tun sollte, vernachlässige ich damit noch nicht notwendig meine Verpflichtungen." 14) Und ganz im Sinne der hier vorgetragenen Überlegungen fährt er fort: "Es sei nebenbei angemerkt, dass das Versäumnis, irgendeine Unterscheidung zu machen zwischen jemandes Verpflichtungen und dem, was man tun soll, meiner Meinung nach in der Moralphilosophie einen beträchtlichen Unfug angerichtet hat. Denn es hat einige Theoretiker dazu geführt, alles 'Sollen' den Verpflichtungen anzugleichen, und andere dazu, alle Verpflichtungen zu einem 'Sollen' zu verdünnen, und dadurch wurde aus dem, was miteinander verträgliche Elemente einer einzigen Lehre sein sollten, der Anschein geschaffen von sich unversöhnlich gegenüberstehenden philosophischen Schulen. Hier wie anderswo in der Philosophie wurde ein Großteil der Auseinandersetzung zwischen Leuten ausgetragen, die - fest im Besitz eines Teils der Wahrheit - darauf bestehen, dass der Teil, den sie innehaben, in Wirklichkeit das Ganze ist." 15)

Auf einer etwas anderen Ebene betont auch J. Raz die Unterschiede zwischen dem einfachen Sollen und einer Verpflichtung 16). In seiner Analyse der Begründungen, wie sie im Alltag für Handlungen gegeben werden, unterscheidet Raz verschiedene Arten von Gründen. Zum einen gibt es "Gründe erster Ordnung", die das inhaltliche Für und Wider in Bezug auf eine Norm ausdrücken und die gegeneinander abgewogen werden müssen. Die Gründe erster Ordnung würden also nach der hier vorgenommenen Unterscheidung der inhaltlichen Wahrheitsebene entsprechen. Dann gibt es jedoch in der moralischen Argumentation noch "Gründe zweiter Ordnung". Dies sind ihrerseits Gründe dafür, ob man bestimmte andere Gründe gelten lassen soll oder nicht. "Ein Grund zweiter Ordnung ist irgendein Grund dafür, aus einem bestimmten Grund zu handeln oder das Handeln zu unterlassen."

Unter diesen sind besonders die von Raz sogenannten "ausschließenden Gründe" (exclusionary reasons) von Interesse. "Ein ausschließender Grund ist ein Grund zweiter Ordnung dafür, das Handeln aus irgendeinem Grund zu unterlassen." 18) Ein derartiger 'ausschließender Grund' kann z. B. durch ein Versprechen oder durch den Befehl eines Vorgesetzten gegeben werden, also durch verfahrensmäßig gesetzte Normen.

Im Falle eines inhaltlich problematischen Befehls durch einen militärischen Vorgesetzten wäre z. B. die Tatsache des Befehls ein ausschließender Grund dafür, die inhaltlichen Gründe erster Ordnung gegen die Befolgung des Befehls nicht zu berücksichtigen. Ein Untergebener könnte etwa argumentieren: "Befehle sind Befehle und sollten befolgt werden, selbst wenn sie inhaltlich falsch sind und selbst wenn kein Schaden aus ihrer Nichtbefolgung entsteht. Das heißt es, ein Untergebener zu sein. Es bedeutet, dass es nicht Deine Sache ist zu entscheiden, was das Beste ist. Man mag der Meinung sein, dass bei Abwägung von Gründen ein bestimmtes Handeln richtig ist, und kann dennoch zu Recht sich nicht dafür entscheiden. Ein Befehl ist ein Grund dafür, zu tun, was einem befohlen wurde, ohne Rücksicht auf das Übergewicht der Gründe." 19) Hier macht Raz ganz deutlich, dass es in solchen Fällen verschiedene Argumentationsebenen gibt, zum einen die inhaltliche Richtigkeit des Befehls und zum andern die verfahrensmäßige Verbindlichkeit als Befehl eines Vorgesetzten.

Auch in der politischen Philosophie hat die Unterscheidung zwischen einer inhaltlichen und einer verfahrensmäßigen Ebene der Geltung von Normen eine Rolle gespielt. Mit aller Deutlichkeit hat z. B. Wollheim herausgearbeitet, dass bei Anwendung des Mehrheitsprinzips die überstimmte Minderheit in dem Dilemma steht, dass sie einerseits als Demokraten die Befolgung des Mehrheitsbeschlusses für ihre Pflicht halten und dass sie andererseits diesen Beschluss zugleich für inhaltlich falsch halten. Wollheim spricht hier von einem "Paradox in der Theorie der Demokratie", da für einen Demokraten der Beschluss zugleich befolgt werden soll (weil mehrheitlich beschlossen) und nicht befolgt werden soll (weil inhaltlich falsch).

Wollheim betont allerdings zu Recht, dass dies Problem dann nicht auftaucht, wenn die Individuen bei der Abstimmung aufgefordert werden, ihre jeweiligen Eigeninteressen zum Ausdruck zu bringen, die erst durch das Mehrheitsprinzip zu einem kollektiven Interesse zusammengefasst werden. Dass Eigeninteresse und kollektives Interesse differieren, stellt ja keinerlei Paradox dar.21)

Das Dilemma ist jedoch dann akut, wenn die Individuen bei der Abstimmung bereits ihr Urteil über das kollektive Interesse ausdrücken (Wollheim spricht hier von 'evaluations') und die Wählerschaft also als eine Art Jury für die Wahl der besten Politik angesehen wird. Nach Wollheims Meinung entspricht die Interpretation der Abstimmung als einer Juryentscheidung eher dem, was in einer Demokratie vor sich geht, als die Interpretation der Abstimmung als Verfahren zur Zusammenfassung unterschiedlicher Eigeninteressen.

Unabhängig von der letzteren Frage ist das Problem, das Wollheim formuliert hat, jedoch ein reales und entsteht nicht nur durch eine individualistische Perspektive. Immer dann, wenn neben die normative Wahrheitssuche im Diskurs irgendein verbindliches Normsetzungsverfahren tritt, können individuelle Überzeugung und verbindlich gesetzte Norm miteinander in Konflikt geraten - ganz unabhängig davon, im Rahmen welcher politischen Einheit und durch welches Verfahren die Normsetzung stattfindet. Und dabei muss es keineswegs so sein, dass der Fehler immer bei denjenigen Individuen liegt, deren Überzeugung von der gesetzten Norm abweicht.

Wollheim selbst hat für die Auflösung des Dilemmas Hinweise gegeben, indem er eine Unterscheidung trifft zwischen "direkten" moralischen Prinzipien und "indirekten"(oblique) moralischen Prinzipien.

Direkte Prinzipien beziehen sich auf die Moralität von Handlungen, Politiken, Motiven etc., wobei diese mit Hilfe bestimmter allgemeiner beschreibender Ausdrücke ausgewählt oder bezeichnet werden, z. B. Mord, Neid, Wohlwollen, Empfängnisverhütung, Lügen etc.

Im Gegensatz dazu beziehen sich indirekte Prinzipien auf die Moralität von Handlungen, Politiken, Motiven etc., wobei sie mit Hilfe einer künstlichen Eigenschaft identifiziert werden, mit der sie entweder durch den Willensakt eines Individuums oder als Folge des körperschaftlichen Handelns irgendeiner Institution versehen werden.

Beispiele direkter Prinzipien wären: 'Mord ist schlecht', 'Empfängnisverhütung ist erlaubt'.

Beispiele für indirekte Prinzipien wären: 'Was vom Souverän befohlen wird, soll getan werden' oder 'Was vom Volk gewollt wird, ist richtig'."

Wollheim unterscheidet hier also zwei verschiedene Geltungsebenen normativer Sätze, die der oben getroffenen Unterscheidung zwischen inhaltlicher und verfahrensmäßiger Richtigkeit weitgehend entsprechen. Konflikte zwischen beiden Ebenen stellen dabei keine logischen Widersprüche dar.

Somit verschwindet das logische Paradox des überstimmten Demokraten, denn die widersprüchlichen Sollensaussagen beziehen sich einmal auf direkte inhaltliche Prinzipien und das andere Mal auf indirekte verfahrensmäßige Prinzipien.

Allerdings ist damit noch nicht das sachliche Problem gelöst, wie sich ein Demokrat im Falle eines Auseinandertretens inhaltlicher und verfahrensmäßiger Richtigkeit verhalten soll.

Als letztes Beispiel für Versuche zur Differenzierung zwischen der Ebene der Wahrheit und der Ebene der Verbindlichkeit seien diejenigen Rechtsphilosophen genannt, die sich wie z. B. Radbruch weder ganz der kognitivistischen noch ganz der dezisionistischen Grundposition verschrieben haben.

Nach Radbruch hat sich das Recht auszurichten an den drei Grundwerten Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit. Für die Wahrheitsebene benutzt Radbruch also ein zweigeteiltes Kriterium: Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. Dabei stellt nur die Gerechtigkeit ein objektivierbares Kriterium dar. Da die Frage der Zweckmäßigkeit nicht objektiv entscheidbar ist, ergibt sich die Notwendigkeit einer verbindlichen Normsetzung zur Beendigung des Streits. "Die Frage des Zweckes musste, soweit sie auf die ethischen Güter abgestellt war, im Relativismus enden. Da deshalb insoweit das richtige Recht nicht festgestellt werden kann, muss es festgesetzt werden, und zwar durch eine Macht, die das Festgesetzte auch durchzusetzen vermag. Dies ist die Rechtfertigung des positiven Rechts; denn die Forderung der Rechtssicherheit kann nur durch die Positivität des Rechts erfüllt werden. Damit zeigt sich als dritter Bestandteil der Rechtsidee: die Rechtssicherheit."
25)

Interessant ist für unsern Zusammenhang nun, dass die Kriterien der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit in Konflikt geraten können, so dass gerechte Norm und gesetzte Norm auseinander treten. "Rechtssicherheit fordert also die Geltung positiven Rechts. Das Bedürfnis der Rechtssicherheit kann aber auch dazu führen, dass tatsächliche Zustände zu Rechtszuständen werden, ja paradoxerweise dazu, dass aus Unrecht Recht wird. Um der Rechtssicherheit willen, nämlich damit der Streit einmal ein Ende finde, erlangt auch das Fehlurteil Rechtskraft, ja wo Fallrecht oder Präjudizienkultus gilt, Geltung über den Einzelfall hinaus für künftig gleich liegende Fälle. Ursprünglich gesetzwidrige Gewohnheit wird zum Rechte und vermag dann auch das ihr entgegenstehende Gesetz aus der Geltung zu drängen." 26)

Im Konflikt zwischen den verfassungsmäßigen Grundwerten Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zeigen sich auch hier die unterschiedlichen Geltungsebenen von Normen: inhaltlich gesehen sollte einem Fehlurteil nicht entsprochen werden, denn es ist falsch. Verfahrensmäßig gesehen ist dasselbe Urteil aber "rechtskräftig" und damit verbindlich, so dass ihm von dorther entsprochen werden sollte.

Mit diesen ausführlichen Zitaten ist hinreichend belegt worden, dass von den verschiedensten Autoren eine Berechtigung für beide Geltungsebenen normativer Sätze, die Wahrheitsebene und die Ebene der verbindlichen Setzung, anerkannt wurde.

Damit stellt sich das Problem, wie sich beide Ebenen zueinander verhalten. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Ebene sich im Falle eines Konflikts durchsetzen soll: Was sind die Grundlagen und die Grenzen des Gehorsams gegenüber verfahrensmäßig gesetzten Normen? Dabei können natürlich im Rahmen dieses Aufsatzes nur eher vorläufige Antworten auf diese Fragen skizziert werden.

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VI. Das Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher Richtigkeit und formaler Verbindlichkeit von Normen


Für die Frage nach der Wahrheit bzw. inhaltlichen Richtigkeit von Normen erscheinen methodologische Kriterien am geeignetsten, wie sie in der Diskurstheorie und in modernen Versionen des Utilitarismus entwickelt wurden.28) Danach muss sich der Wahrheitsanspruch für eine Norm daran erweisen, ob über sie in einem zwangfreien, rein argumentativen Diskurs ein universaler Konsens möglich ist. Die argumentative Konsensfähigkeit einer Norm scheint dabei nur dann gegeben zu sein, wenn sie dem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse entspricht. Darunter ist zu verstehen, dass jedes Individuum die Interessen jedes andern solidarisch so zu berücksichtigen hat, als seien es zugleich seine eigenen.

Wie oben bereits gezeigt wurde, wäre es für die Verwirklichung des solidarisch bestimmten Gesamtinteresses jedoch nicht unbedingt förderlich, wenn dies Ziel den Individuen direkt als Richtschnur ihres Handelns gegeben würde. Denn aufgrund nicht übereinstimmender und veränderlicher individueller Überzeugungen hinsichtlich des Gesamtinteresses würde keine Koordination zwischen den Individuen zustande kommen. Eine koordinierte Kooperation der Individuen, ohne die in vielen Fällen ein im Gesamtinteresse liegendes Resultat nicht erreicht werden kann, setzt deshalb eine für alle Beteiligten verbindliche Norm voraus, die sie unabhängig von ihren möglicherweise abweichenden Überzeugungen befolgen.

Die Einschaltung von verbindlichen Normsetzungsverfahren zwischen Wahrheitsüberzeugung und Handeln der Individuen bedeutet nach der hier vertretenen Position keine Abkehr vom Maßstab des Gesamtinteresses. Die Notwendigkeit von Normsetzungsverfahren wird umgekehrt vom Maßstab des Gesamtinteresses her begründet. Insofern ist das Ziel der Koordination (bzw. Rechtssicherheit), das durch verbindliche Normsetzung erreicht wird, auch kein Selbstzweck, denn es kann ja auch Koordination mit Zielsetzungen geben, die dem Gesamtinteresse eher schädlich sind. Und auch "Sicherheit" ist unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses kein eigenständiger Wert, denn es kann auch den "sicheren Untergang" geben.

Da Koordination kein Selbstzweck sein kann, ist es auch nicht gleichgültig, welche Verfahren der verbindlichen Normsetzung Anwendung finden und wie die resultierenden Normen inhaltlich beschaffen sind. Es sollten deshalb möglichst nur solche Normen verbindlich gemacht werden, die der Verwirklichung des Gesamtinteresses dienen, denen also zugleich Wahrheit zukommt. Die Frage ist, welche Verfahren der Normsetzung dazu am besten geeignet sind.

Eine erste Antwort darauf wäre es, Normsetzungsverfahren zu fordern, die dem Diskurs möglichst weitgehend entsprechen und zugleich ein definitives Resultat garantieren. Beispiele hierfür wären etwa öffentliche Diskussionen mit anschließenden Abstimmungen unter den Bedingungen der Meinungs- und Wahlfreiheit. Allerdings können auch derartige diskursähnliche Verfahren keine inhaltlich richtigen Resultate garantieren, da sie mit den verschiedensten Fehlermöglichkeiten behaftet sind. Ein Beispiel hierfür wäre der Fall, dass beteiligte Individuen an bestimmten Punkten für Argumente nicht zugänglich sind aufgrund von Vorurteilen, Manipulation etc.

Verschärft wird die mögliche Diskrepanz zwischen wahrer und gesetzter Norm dadurch, dass diskursähnliche Verfahren aufgrund des hohen Entscheidungsaufwands und des großen Zeitbedarfs für viele Situationen nicht geeignet sind. Dies macht deutlich, dass es kein für alle Situationen bestes Normsetzungsverfahren geben kann, sondern dass je nach Informationsbedarf, Zeitdruck, Wichtigkeit der Entscheidung, Verhaltensdisposition der Individuen usw. unterschiedliche Verfahren geeignet sind. Die Vor- und Nachteile der einzelnen Verfahren sollen hier nicht weiter verfolgt werden. 29)

Für die hier verfolgte Fragestellung bleibt es nur wichtig festzuhalten, dass es unter dem Gesichtspunkt einer Verwirklichung des Gesamtinteresses gerechtfertigt sein kann, in bestimmten Bereichen diskursferne Normsetzungsverfahren anzuwenden, und dass besonders bei diesen aber auch bei den diskursähnlichen Verfahren die daraus resultierenden Normen unter inhaltlichen Kriterien erhebliche Mängel aufweisen können, d. h. dass u. U. wahre und verbindliche Norm weit auseinander fallen können.

Die Frage ist, wie sich die Individuen in solchen Situationen verhalten sollen. Sie stehen ja vor dem Dilemma, entweder die gesetzte Norm zu befolgen und damit zu einem Resultat beizutragen, das dem Gesamtinteresse eher schädlich ist, oder aber die gesetzte Norm nicht zu befolgen und damit die Koordination der individuellen Handlungen zu beeinträchtigen. Außerdem kann aufgrund des einmal enttäuschten Vertrauens auch das zukünftige Funktionieren des Normsetzungsverfahrens in Mitleidenschaft gezogen werden.

Dabei müssen allerdings von vornherein zwei Fälle unterschieden werden. Der eine, theoretisch eher unproblematische Fall liegt dann vor, wenn sich die gesetzte Norm weder direkt noch indirekt aus einem Normsetzungsverfahren herleitet, das hierfür richtig ist. In diesem Fall, z. B. wenn die Norm durch eine Minderheit zur Befriedigung ihrer eigenen Interessen gesetzt wird, kann die gesetzte Norm keinerlei Verbindlichkeit beanspruchen und es wird im Gesamtinteresse liegen, dies Normsetzungssystem selber zu beseitigen. Welche Mittel und Wege hierzu Erfolg versprechen und unter dem Aspekt des Gesamtinteresses am geeignetsten sind, hängt dabei von den spezifischen Umständen des Falles ab wie Machtverhältnissen, Möglichkeiten zur Änderung auf unblutigem Wege, Wahrscheinlichkeit und Folgen eines Bürgerkrieges usw.

Der andere, theoretisch schwierigere Fall ist der, dass die gesetzte Norm zwar inhaltlich falsch ist, sich aber direkt oder indirekt aus Normsetzungsverfahren herleitet, die dafür als richtig anzusehen sind. Hierhin gehört der Fall des Demokraten, der das Mehrheitsprinzip für das richtige Verfahren hält, um eine bestimmte normative Frage zu entscheiden, der jedoch einen einzelnen Mehrheitsbeschluss für inhaltlich falsch und dem Gesamtinteresse zuwiderlaufend hält. Dieser Fall soll im Folgenden erörtert werden.

Vermeiden ließe sich das Dilemma einer Entscheidung zwischen inhaltlicher und verfahrensmäßiger Richtigkeit dann, wenn innerhalb des Normsetzungssystems Verfahren der Revision inhaltlich fehlerhafter Normen bestehen, so dass die gesetzte Norm verbindlich korrigiert werden kann. Hier ist die Koordinationsfunktion nur zeitweise blockiert aber nicht generell aufgehoben. Andererseits können auch Revisionsverfahren, wie z. B. die erneute Abstimmung der Frage oder die Zuweisung an eine besondere Beschwerdeinstanz, nicht garantieren, dass die schließlich verbindliche Entscheidung inhaltlich fehlerfrei ist. Dann existiert aber das oben genannte Dilemma fort.

Eine erste Antwort auf die Frage, ob der falsche Mehrheitsbeschluss befolgt werden soll oder nicht, könnte zustimmend ausfallen. Denn der Sinn des verbindlichen Normsetzungsverfahrens war es ja gerade, trotz möglicherweise unterschiedlicher Wahrheitsüberzeugungen der Individuen ein koordiniertes Handeln zu ermöglichen. Deshalb, so könnte man argumentieren, sollte eine abweichende Überzeugung auch nicht ohne weiteres eine Rechtfertigung bilden, die verbindlich gesetzte Norm nicht zu befolgen. Wenn es so wäre, hätte man sich den Umweg über das Normsetzungsverfahren sparen können und es den Individuen von vornherein freistellen sollen, entsprechend ihren Überzeugungen vom Gesamtinteresse zu handeln.

Dies Argument ist richtig, jedoch lässt sich daraus kein generelles Gehorsamsgebot gegenüber verfahrensmäßig richtigen aber inhaltlich falschen Normen ableiten. Denn der Koordinierungszweck gilt ja nicht absolut sondern nur durch seinen Beitrag zur Verwirklichung des Gesamtinteresses. Es kann deshalb Fälle geben, in denen die gesetzte Norm in so hohem Maße schädlich für das Gesamtinteresse ist, dass der gleichzeitige Vorteil der Koordinierung im Sinne einer Stabilisierung der Zukunftserwartungen mehr als aufgewogen wird. Dann wäre es von der Befriedigung des Gesamtinteresses her gesehen besser, wenn Individuen gemäß ihren abweichenden Überzeugungen auch unkoordiniert handeln, als wenn sie die gesetzte aber inhaltlich katastrophale Norm befolgen.

Sofern das Normsetzungsverfahren tatsächlich das geeignetste ist, werden solche Fälle jedoch die Ausnahme bleiben. In vielen Fällen wird irgendeine Koordination immer noch besser sein als gar keine Koordination.

Bei der Frage, ob ein Individuum die verbindlich gesetzte, also verfahrensmäßig richtige aber inhaltlich falsche Norm befolgen soll oder nicht, sind die möglichen Folgen einer Nichtbefolgung möglichst vollständig in die Erwägungen mit einzubeziehen. Insbesondere ist die Gefahr zu berücksichtigen, dass sich andere Individuen ein falsches Beispiel daran nehmen und nun den gesetzten Normen den Gehorsam auch in solchen Fällen verweigern, wo dies inhaltlich gar nicht gerechtfertigt ist. 30)

Dem könnte dadurch entgegengewirkt werden, dass der Zuwiderhandelnde ganz klar macht, auf welche spezifische Norm sein Ungehorsam bezogen ist, und dass er andere Normen oder das Normsetzungsverfahren selber damit nicht in Frage stellen will. Durch Offenlegung der Reichweite und der spezifischen Gründe des Zuwiderhandelns kann also bewirkt werden, dass die nützliche Koordinationsfunktion des Normsetzungsverfahrens in andern Bereichen möglichst wenig beeinträchtigt wird. Deshalb ist es z. B. in Fällen von "zivilem Ungehorsam" von großer Wichtigkeit, dass die Zielrichtung des Protests vollkommen deutlich gemacht wird.

Gemäß der hier vertretenen Position wird einem Individuum also die - allerdings nur "moralische" - Berechtigung zugesprochen, eine verfahrensmäßig richtige Norm aufgrund inhaltlicher Mängel nicht zu befolgen, sofern dies bei umfassender Abwägung aller Konsequenzen dem Gesamtinteresse besser entspricht. Dagegen mag eingewandt werden, dass dies eine gefährliche Position ist, da in vielen Fällen die Individuen irrtümlicherweise davon ausgehen werden, dass ihre normative Überzeugung die richtige ist und dass der Schaden der Nichtbefolgung geringer ist als der Schaden, der durch eine Befolgung angerichtet würde. Damit werde die Möglichkeit eröffnet, jederzeit unter Berufung auf das vermeintliche oder auch nur vorgeschobene Gesamtinteresse verfahrensmäßig richtige Normen nicht zu befolgen.

Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, dass diese Gefahr zwar besteht aber praktisch nicht sehr groß ist. Denn die verbindlich gesetzte Norm existiert ja fort, einschließlich der zu ihrer Durchsetzung vorgesehenen Sanktionsregeln. Sofern nun, wie bei unserer Problemstellung angenommen, keine verbindliche Aufhebung der Norm entsprechend einem dafür vorgesehenen Revisionsverfahren zustande kommt, wird die Nichtbefolgung der gesetzten Norm mit negativen Sanktionen bedroht. Eine leichtfertige oder nur vorgeschobene Berufung auf das Gesamtinteresse wird durch diese Sanktionsdrohung weitgehend ausgeschlossen, denn der "Überzeugungstäter" muss in seiner Überzeugung schon sehr gefestigt sein, um trotz Sanktionsdrohung der gesetzten Norm entgegenzuhandeln. Ähnliches gilt für den Egoisten, der das Gesamtinteresse als Grund für seinen Ungehorsam nur vorschiebt.

Mit dieser Überlegung wird zugleich deutlich, dass dann, wenn erstmal eine Diskrepanz zwischen wahrer und gesetzter Norm eingetreten ist, keine ideale Lösung mehr möglich ist, sondern nur noch das kleinere von mehreren Übeln gewählt werden kann. So wird im hier diskutierten Fall das Individuum für ein Verhalten bestraft, zu dem es zugleich moralisch berechtigt war. Es kommt deshalb entscheidend darauf an, derartige Diskrepanzen zwischen gesetzten und wahren Normen von vornherein möglichst zu vermeiden bzw. gering zu halten.

Ein Beitrag dazu kann auf verschiedenen Ebenen geleistet werden. Zum einen können die Methoden zur wahren Beantwortung normativer Fragen genauer herausgearbeitet, besser begründet und allgemeiner gelehrt werden. In dem Maße, wie in der Methodologie normativer Erkenntnis Fortschritte erzielt werden, klaffen die normativen Überzeugungen der Individuen weniger weit auseinander und die Gefahr, dass die normsetzende Instanz irrtümlich inhaltlich falsche Normen für verbindlich erklärt, wird verringert. In dieser Weise hat ja auch die Entwicklung der modernen Methodologie empirischer Erkenntnis zu einer Annäherung der Überzeugungen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit geführt.

Zum andern ist es notwendig, für die verschiedenen Lebensbereiche Verfahren der Normsetzung zu bestimmen und anzuwenden, die unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses zu möglichst guten Ergebnissen führen. Es ist die zentrale Aufgabe der normativen Sozialwissenschaften und der normativen Philosophie, auf die damit gestellten Fragen begründete, argumentativ Konsensfähige Antworten zu erarbeiten.


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Anmerkungen / Literatur:
 

 1) s. H. Kelsen: Pure Theory of Law. 2. Aufl. Berkeley 1970, S.193ff.

1b) Eine konventionalistische Position vertritt z. B. K.H. Ilting in seinem Text "Anerkennung" in: G.G. Grau (Hrsg.): Probleme der Ethik. Freiburg 1972.

2) s. J. Tussman: Obligation and the Body Politic. London u.a. 1960.

3) dazu ausführlicher die Kritik von J.L. Mackie an J.R. Searle in seinem Buch: Ethics, Inventing Right and Wrong. Harmondsworth 1977, S.64ff.

4)  dazu J. Rawls: A Theory of Justice. London u. a. 1973, S.17ff.

5)  s. R.B. Brandt: "Towards a Credible Form of Utilitarianism" in: H.-N. Castaneda u. G. Nakhnikian (Hrsg.): Morality and the Language of Conduct. Detroit 1965, S.109f.

6)  Auf die verschiedenen Varianten des Regelutilitarismus soll hier nicht weiter eingegangen werden. S. dazu die Beiträge in B.A. Brody (Hrsg.): Moral Rules and Particular Circumstances. Englewood Cliffs, N.J. 1970 sowie die eher kritische Analyse in D. Lyons: Forms and Limits of Utilitarianism. Oxford 1967.

7)  s. J. Rawls: "Two Concepts of Rules" in: Philosophical Review 64. (1955) S. 3-32, zitiert nach dem Wiederabdruck in Ph. Foot (Hrsg.): Theories of Ethics. Oxford 1967, S. 144-170.

8)  ebenda S. 155f.

9)  Zur Diskurstheorie s. z. B. J. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S.148f. sowie die Beiträge in F. Kambartel (Hrsg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt a.M. 1974, sowie meine eigene Arbeit: Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse. Stuttgart 1978, S. 23ff.

10)

11) s. J. Habermas: Legitimationsprobleme ..., a.a.O., S. 148

12) H.L.A. Hart: "Legal and Moral Obligation" in: A.I. Melden (Hrsg.): Essays in Moral Philosophy. Seattle u. a. 1958, S.102

13)  ebenda S.82f.

14)  G.J. Warnock: The Object of Morality. London 1971, S.94.

15)  ebenda S.94f.

16)  J. Raz: Practical Reasons and Norms. London 1975

17)  ebenda S.39

18)  ebenda S.39

19)  ebenda S.38

20)  s. R. Wollheim: "A Paradox in the Theory of Democracy" in: P. Laslett u. W. G. Runciman (Hrsg.): Philosophy, Politics and Society. 2nd Series. Oxford 1962, S.71-87

21) s. dazu auch die Arbeit des Verfassers: Tauschprinzip … , a.a.O., S. 135f.

23) R. Wollheim, Paradox … , a.a.O. S.85

24)  s. dazu G. Radbruch: Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Aufl. Stuttgart 1952. S. 36ff.

25)  ebenda S.39

26)  ebenda S.40

27)  Hinzuweisen ist hier auf die scharfsinnige Analyse von R.A. Wasserstrom: "The Obligation to Obey the Law" in: UCLA Law Review, 10.(1963) 5.780-807. Wiederabgedruckt in A. de Cresnigny u. A. Wertheimer (Hrsg.): Contemporary Political Theory. New York 1970, S.268-296

28)  Eine ausführliche Begründung dieser Position habe ich in meiner Arbeit: Tauschprinzip .., a.a.O., Teil I gegeben.

29)  s. dazu etwa R.A. Dahl u. Ch.E. Lindblom: Politics, Economics and Welfare. New York u.a. 1963

30)  Zu weiteren Gesichtspunkten, die bei einem Zuwiderhandeln gegen verbindlich gesetzte Normen zu berücksichtigen wären s. J.J.C. Smart: "Extreme and Restricted Utilitarianism" in: Philosophical Quarterly 6.(1956) S. 345-354, übersetzt und wiederabgedruckt unter dem Titel "Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus" in D. Birnbacher u. N. Hoerster (Hrsg.): Texte zur Ethik. München 1976, S.208-222

(Dies ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags in Markl, K.-P. (Hrsg.): Analytische Politikphilosophie und ökonomische Rationalität Band 1. Opladen 1985.)

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Inhaltliche Richtigkeit und formale Verbindlichkeit von Normen
(kurze Einführung)

Wenn man fragt, warum Individuum A eine bestimmte Handlungsnorm N befolgt soll, so gibt es zwei Arten von Antworten.

Die eine Art von Antworten bezieht sich auf
eine Institution oder ein Verfahren, wodurch die Norm gesetzt wurde. Beispiele hierfür sind: A soll H tun, ...
"… weil A dies versprochen hat",
"… weil der Verstorbene dies in seinem Testament so festgelegt hat",
"… weil das geltende Recht dies vorschreibt",
"… weil der Eigentümer es so will",
"… weil es mehrheitlich so beschlossen wurde" etc.

Die andere Art von Antworten bezieht sich auf die
inhaltliche Beschaffenheit der Norm. Beispiele für diese Art von Antworten sind: A soll H tun, ...
"… weil diese Norm gerecht ist",
"… weil diese Norm für alle das Beste ist",
"… weil die Befolgung dieser Norm zum größten Wohl aller führt",
"… weil diese Norm der Menschenwürde entspricht" etc.

Offensichtlich liegen diese Begründungen auf
zwei verschiedenen Ebenen
, denn man kann ohne logischen Widerspruch sagen: "Ich halte den Beschluss der Parlamentsmehrheit zwar für inhaltlich falsch, aber dennoch betrachte ich den Beschluss als für mich verbindlich. Ich respektiere die Beschlüsse der Mehrheit."

Man kann die ethischen Theorien nun danach unterscheiden, wie sie mit dem Spannungsverhältnis zwischen der Ebene der verfahrensmäßigen Setzung von verbindlichen Normen und der Ebene der argumentativen Bestimmung richtiger Normen umgehen.

Auf der einen Seite stehen ganz außen die Dezisionisten. Für sie ist nur die verbindliche Setzung von Normen bedeutsam. Sie bestreiten, dass man in Bezug auf Normen überhaupt von inhaltlicher Richtigkeit und von einer Erkenntnis der richtigen Norm sprechen kann.

Auf der andern Seite stehen ganz außen die ethischen Kognitivisten. Für sie ist das Problem ethischen Handelns allein ein Erkenntnisproblem, das man durch die Gewinnung relevanter Informationen und deren Auswertung nach geeigneten Kriterien lösen kann. Eine Legitimation von Normen durch Verfahren ist für sie nicht möglich.

Das Hauptproblem der Kognivisten ist, dass es auch beim wissenschaftlichen Meinungsstreit oft nicht zu definitiven Erkenntnissen kommt, die als Grundlage der sozialen Koordination dienen könnten. Es werden deshalb zusätzlich verbindliche und sanktionierte Normen benötigt, die für jedes Individuum das Handeln der andern berechenbar macht.

Das Hauptproblem der Dezisionisten ist, dass es für sie keine Berechtigung für einen Widerstand gegen die gesetzten Normen geben kann, denn "verbindlich ist verbindlich". Außerdem können Dezisionisten nicht begründen, warum man ein Normsetzungsverfahren irgendeinem anderen Verfahren vorziehen soll.


Hierzu gibt es verschiedene Zwischenpositionen.

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Normativer Diskurs und verbindliche Normen *** (93 K)
   
Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von Normen - Notizen ** (10 K)

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Letzte Bearbeitung 28.11.2005 / Eberhard Wesche

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