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Präzisierung der ethischen Fragestellung

 


Was ist genau die normative Fragestellung? Es lassen sich verschiedene Arten normativer Fragen formulieren, die sich in ihrem Inhalt nur zum Teil decken:

" Wie soll ich in dieser bestimmten Situation handeln?"

"Wie soll ich in Situationen dieser Art handeln?"

"Wie soll man in dieser bestimmten Situation handeln?"

"Wie soll man in Situationen dieser Art handeln?"

"Welche Normen soll ich befolgen, unabhängig davon, wie die andern handeln?"

"Welche Normen soll man befolgen, unabhängig davon, wie die andern handeln?"

"Welches sind die richtigen Normen für mein Handeln?"

"
Welches sind die richtigen Normen für das Handeln aller Menschen?"

"Welche Normen sollen für das Handeln der Menschen gelten, angenommen alle würden diese Normen befolgen?"

"Welche Normen sollen für das Handeln der Menschen - so wie sie nun einmal sind -  gelten?"

"Welche Normen sind für mich verbindlich?"

"Welche Normen sind für alle verbindlich?"

"Welche Normen sollen zum Gesetz erhoben und sanktioniert werden?"


Die ersten vier Fragen beziehen sich auf bestimmte Handlungssituationen. Damit erhebt sich die Frage, wodurch eine Handlungssituation bestimmt wird. Gehören dazu auch bereits bestehende normative Vorentscheidungen? Es macht ja einen Unterschied, ob ich zuvor bereits etwas vereinbart habe oder nicht. Und es macht auch einen Unterschied, ob eine Rechtsordnung besteht oder nicht. Damit verschiebt sich jedoch das Problem sofort auf die Frage nach der Verbindlichkeit der bereits bestehenden normativen Elemente. Die Frage "Wie soll ich (Wie soll man) handeln?" lässt sich offenbar nicht "direkt" angehen.

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Das Normenproblem stellt sich auf verschiedenen Ebenen:
Neben der individualethischen Fragestellung: "Wie soll man in einer bestimmten  Situation handeln?" ist die rechtspolitische Fragestellung von Bedeutung, die allgemein formuliert lautet: "Welche Normen sollen zu Gesetzen gemacht werden?"  

Zu den Gesetzen gehören dabei nicht nur die Festlegungen der vorgeschriebenen Handlungen bzw. Unterlassungen, sondern auch die anzuwendenden Sanktionen bei Nicht-Befolgung dieser Verhaltensnormen durch Strafen wie z. B. Freiheitsentzug.

Damit ergibt sich die Frage, wer die Gesetze durchsetzt. Zur Durchsetzung gehört u.a. die Ermittlung von Normverletzungen (Wer hat welche Norm verletzt?) und die Vollstreckung der Sanktionen (z. B. Verhaftung des Normverletzers und Vollzug der Sanktion.)

Damit ist ein sozialer Mechanismus bzw. eine soziale Organisation erforderlich, um diese Funktion zu erfüllen. Z. B. die soziale Ächtung von Normverletzern, Gerichte,  Polizei, Gefängnisse - also im Kern eine überlegene Macht, ein Staat.

Mit der Aufgabe der Gesetzgebung stellt sich sofort die Frage nach der Verfassung des Staates, in der die Fragen entschieden werden, nach welchem Verfahren die Gesetze bestimmt werden sollen, und vor allem, wer der Gesetzgeber sein soll.
- Ist es ein Gremium von Fachleuten für Normenbestimmung, z. B. ein Gremium von Moralphilosophen? (Wer entscheidet über die Zusammensetzung eines solchen Gremiums? Was ist, wenn sich die Fachleute nicht einig sind?)
- Ist es ein Prophet im göttlichen Auftrag? (Wer entscheidet darüber, ob es sich bei einem Individuum tatsächliche um einen göttlich inspirierten Propheten handelt?)
- sind es  der Mitglieder einer Gemeinschaft oder ein bestimmter Teil von diesen, z. B. die Gesamtheit aller Erwachsenen? (Wie soll sich eine solche Gemeinschaft konstituieren? Wie kann eine sehr viele Individuen Gesetze geben? Was ist im Falle der Uneinigkeit?)

An diesen Fragen wird deutlich, dass der Gesetzgebungslehre eine Verfassungslehre beigeordnet sein muss, die das Verfahren der Gesetzgebung festlegt (Welche Verfassungsorgane gibt es und mit welchen Kompetenzen sind sie ausgestattet? Wie bestimmt sich die Mitgliedschaft in der Normengemeinschaft?)

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Ebenen der Geltung und der Allgemeinheit von Normen

- ich fordere die allgemeine Befolgung einer bestimmten Norm
- ich fordere die institutionelle Einführung einer bestimmten Norm (z. B. als staatlich sanktioniertes Recht, als Bestandteil einer Vereinssatzung ...)
- ich behaupte, dass jede Person zu jeder Zeit eine bestimmte Norm befolgen soll
- ich behaupte, dass eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation sich hätte anders verhalten sollen
- ich behaupte, dass eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation sich falsch verhalten hat
- ich missbillige ein bestimmtes Verhalten einer bestimmten Person

Diesen unterschiedlichen Ebenen entsprechen unterschiedliche Fragestellungen.

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Wenn man fragt: "Ist es akzeptabel, dass alle die Norm x befolgen?", so beurteilt man die Norm x unter der Voraussetzung, dass sie ausnahmslos befolgt wird. Da diese Annahme nicht unbedingt realistisch ist, stellt sich die Frage: "Und was ist, wenn sich einige nicht an die Norm x halten?" Damit würde die ursprüngliche Frage ja folgendermaßen verändert: "Wäre es akzeptabel, wenn die meisten die Norm x befolgen würden, einige aber nicht?"  

Damit verändert sich natürlich die Konsensfähigkeit. Nehmen wir ein Beispiel: Alle waren sich einig, dass an Stelle der unzähligen Trampelpfade, die bequem aber hässlich sind, ein einziger Weg angelegt werden soll und die Fläche ansonsten schön bepflanzt werden soll. Deshalb das Schild: "Nicht betreten! Anpflanzungen!" Wenn nun manche Leute doch die Abkürzung über die Grünfläche nehmen, so wird für die "gesetzestreuen" Individuen die Norm unakzeptabel, denn sie nehmen nicht nur den Umweg in Kauf, auch die erwarteten positiven Ergebnisse dieser Einschränkung, die blühenden Blumenbeete, sind hinüber.

Damit wird eine soziale Sanktionsinstanz notwendig und der Weg der "Verrechtlichung" wird beschritten. Hier trennen sich dann  auch die Wege derjenigen, die nach dem moralisch richtigen Handeln nur fragen, weil sie "gute Menschen" sein wollen und keine Schuld auf sich laden wollen, und denjenigen, die nach der richtigen Moral fragen, weil sie die gesellschaftliche Ordnung "moralisch gerecht" gestalten wollen. Den Ersteren kommt es vor allem auf die innerpsychische Sanktionsinstanz an, das "Gewissen". Den Letzteren geht es vor allem um die Rechtfertigung bzw. Kritik der soziale Ordnung und deren Durchsetzung.

Die Frage, welche Gesetze gelten sollen, kann verstanden werden als die Frage nach einem Gesamtentwurf eines vollständigen Normensystems. Angesichts des unübersehbaren Regelungsbedarfs einer technisierten, arbeitsteiligen Großgesellschaft erscheint ein solcher utopischer Gesamtentwurf kaum möglich. Außerdem fragt sich, wie eine solche  Konzeption realisiert werden kann.

Wenn man sich auf einzelne Normen oder bestimmte zu regelnde Bereiche beschränkt, so stellt sich sofort das Problem der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Normen: ob es sinnvoll ist, eine bestimmte Norm einzuführen, hängt auch davon ab, welche anderen Normen bereits in Kraft sind.

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Der Einzelne wird hineingeboren in eine bereits bestehende soziale Ordnung. Auch wenn ich theoretisch ganz von vorne, bei den Grundlagen, anfange: in der Praxis kann ich nicht ganz von vorne anfangen. Die wichtigste moralische oder politische Frage lautet deshalb: Gibt es im Vergleich zur bestehenden Ordnung bessere Alternativen?

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Die Frage, welche Normen für bestimmte Bereiche gelten sollen, stellt sich praktisch immer im Situationen, wo schon Normen gelten und anerkennt sind. Zwar müssen prinzipiell alle Regeln in Frage gestellt werden können, aber man wird erstmal vom normativen Status quo ausgehen müssen. Man wird also immer spezifizieren müssen, welche Normen als veränderbar und welche als gegeben anzusehen sind.

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Wenn ich sage, dass die Ethik auf "Soll-Fragen" und die empirische Wissenschaft auf "Ist-Fragen" antwortet, so bedeutet diese Arbeitsteilung nicht, dass bei der Beantwortung der "Soll-Fragen" die "Ist-Fragen" keine Rolle spielen. Ganz im Gegenteil: Immer wenn bei der Beantwortung einer "Soll-Frage" z. B. die Folgen einer Handlung eine Rolle spielen, müssen "Ist-Fragen" beantwortet werden. Ob z. B. die  Einführung der  Todesstrafe zu einer Verringerung der Kapitalverbrechen führt, kann nicht durch philosophisches Nachdenken beantwortet werden, sondern dazu muss man die entsprechenden sozialwissenschaftlichen Untersuchungen durchführen.

Aber keine empirische Wissenschaft ist allein ausreichend, um die Frage zu beantworten, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln sollen. Zielsetzungen, Wertungen oder Handlungsgebote können die empirischen Wissenschaften nicht vorgeben. Sie können jedoch Fragen nach Ursachen und Folgen, nach Mitteln und Wegen beantworten und den Bereich des Menschenmöglichen und Machbaren erweitern. Insofern bleibt das ethische Denken wichtig und notwendig.

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Neuformulierung der Problemstellung:

1. Ausgangspunkt sind Konflikte, seien es
- Konflikte zwischen den Interessen verschiedener Individuen,
- Konflikte zwischen dem Interesse eines Individuums und den bestehenden Normen der Gruppe, der es angehört,
- Konflikte zwischen den Interessen verschiedener Gruppen;
- Konflikte zwischen den Interessen einer Gruppe und den Normen einer umfassenderen Gruppe

2. Ziel ist es, diese Konflikte ohne Anwendung von Gewalt zu lösen.

3. Dies erfordert  hinsichtlich dieser Konflikte Entscheidungen in Form von Normsetzungen, die zum einen für alle  am  Konflikt beteiligten Parteien verbindlich gelten, und der zum andern alle am  Konflikt beteiligten Parteien frei zustimmen können.

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Der Wille der Subjekte ist auf die gesamte Realität gerichtet. Die von einem Individuum  gewollte Welt mag einerseits die bestehende Welt sein, sie mag andererseits auch eine veränderte Welt sein: Ich will, dass manches so bleibt, und ich will, dass manches sich ändert.

Zu dieser Realität gehören nicht nur die natürlichen Abläufe und Geschehnisse, sondern auch das, was andere Menschen sind und tun: Ich will, dass dieser Mensch sich in dieser Hinsicht weiter so verhält wie bisher, und ich will, dass er in jener Hinsicht sich anders verhält als bisher. Dieser Wille richtet sich auf das ganze Sein und Verhalten des anderen Menschen. Insofern taucht der andere Mensch nur als Objekt meines Willens auf. Ich muss auf ihn so einwirken, dass er sich meinem Willen gemäß verhält.

In dem Fall, wo das Objekt meines Willens ein intelligenter Mensch ist und nicht leblose Sachen oder sprachlose Pflanzen und Tiere, habe ich eine besondere Einwirkungsmöglichkeit, um meinen Willen zu realisieren, die gemeinsame Sprache. Ich kann ihm gegenüber meinen Willen äußern und ihn zu einem entsprechenden Handeln auffordern.

Die andern sind dann nicht nur einfache Objekte meines Willens sondern sie sind zugleich verständige  Adressaten meiner Willensäußerungen. Ich fordere sie auf, ihr Verhalten in einer bestimmten Weise zu gestalten, ich fordere sie zu bestimmten Handlungen und Unterlassungen auf. Dies macht Sinn nur dann, wenn es einen Mechanismus  in der Psyche des andern gibt, der meine Willensinhalte übernehmen kann und das  Verhalten in dem von mir gewollten Sinne ändert. Es setzt die Fähigkeit zur bewussten Eigensteuerung des Verhaltens voraus. Erst auf dieser Ebene tritt ein Konflikt in der Form auf, das der andere sich meinem Willen entgegenstellt und sich diesem nicht beugen will.

Der andere kann mir jedoch nicht nur als Objekt meines Willens  und als Adressat der von mir gesetzten Normen entgegentreten, er kann auch derjenige sein, mit dem ich mich einigen will, der andere kann mein Argumentationspartner sein, den ich  von der Richtigkeit bestimmter Normen überzeugen  will. In diesem Fall fordere ich nicht nur Gehorsam in Bezug auf bestimmte Normen, sondern ich begründe die von mir vertretenen Normen, appelliere an seine Einsicht, seine Vernunft. Erst auf dieser Ebene kann es Schuld geben, als Verfehlung der möglichen Einigung.

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Man reduziert den Anspruch an die Ethik zu weit, wenn es reicht, für moralische Normen "Plausibilität" zu erreichen (wann ist die erreicht?) , um sie dann gegen  soziale Widerstände durchzusetzen. Das ist eher das Geschäft des praktischen Politikers, der sein "plausibles" Parteiprogramm politisch durchsetzen will.

Als Wissenschaftler und Philosoph sehe ich meine Aufgabe eher darin, die Beantwortung offener Fragen  voranzubringen und nach den geeigneten Methoden und den Kriterien für die richtige Beantwortung dieser Fragen zu suchen. Und im Bereich der Ethik geht es um die Beantwortung der Frage, wie wir handeln sollen oder dürfen.

Dabei unterscheide ich inhaltliche ethische Fragen  (" Darf man bzw. soll man x tun?" ) von methodologischen Fragen (" Wie kann man inhaltliche Fragen richtig beantworten?).

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Wenn das "individuelle Wohl" das ist, was ein Individuum nach reiflicher Überlegung will, und wenn das "Gesamtwohl" das ist, was alle Individuen der Gesamtheit nach reiflicher Überlegung gemeinsam wollen, so  kommt man notwendigerweise zu der Frage, was wir alle gemeinsam wollen bzw. welche Normen unser aller Anerkennung finden können. Dies erscheint mir eine sinnvolle Ausgangsfrage zu sein, die für den Entwurf einer Ethik keine andere  Voraussetzung macht als die, dass man sich zwanglos durch Argumente einigen will und die Fragen nicht dem Machtkampf überlassen will.

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Mit der Suche nach einer nachvollziehbaren und akzeptierbaren Begründung moralischer Normen setzt man sich scheinbar zwischen alle Stühle.

Der eine Stuhl ist von denen besetzt, die eine derartige Begründung für ausgeschlossen halten, weil jeder seine eigene Moral für allgemeingültig erklärt usw..

Der andere Stuhl ist von denen besetzt, für die eine Begründung nicht nötig ist, weil die Inhalte der Moral sehr einfach und für alle Zeiten und Gesellschaften praktisch die gleichen sind.

Beide Positionen sind einander direkt entgegen gesetzt. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass man sich in beiden Fällen die Mühen einer expliziten, logisch einwandfreien Begründung oder Kritik der moralischen Normen erspart. 

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
 

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Letzte Bearbeitung 18.11.2005 / Eberhard Wesche

 

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