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Fraenkels Konzeption einer pluralistischen Demokratie


Anhang: Zum Unterschied der Demokratievorstellungen von Jean Jacques Rousseau und Ernst Fraenkel

In der deutschen Politikwissenschaft fand die pluralistischen Theorie der Demokratie vor allem in der Interpretation von Ernst Fraenkel weite Verbreitung (Ernst Fraenkel war bereits in der Weimarer Republik politisch und theoretisch tätig, emigrierte vor den Nazis nach den USA und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück. Er war bis zu seiner Emeritierung am Otto-Suhr-Institut in Berlin tätig.)

Seine wichtigsten Arbeiten zur pluralistischen Demokratietheorie sind in dem Buch: "Deutschland und die westlichen Demokratien" zusammengefasst. Fraenkel versteht seine Konzeption pluralistischer Demokratie vor allem als Gegenbegriff zu totalitären politischen Systemen.

Zentral für seine Konzeption ist die These, dass in einer pluralistischen Demokratie das Gemeinwohl nicht im Voraus theoretisch bestimmt wird, sondern sich erst im Nachhinein aus dem geregelten Kräftespiel der verschiedenen Interessengruppen ergibt.

Fraenkel spricht von einem "Gemeinwohl a priori", das für totalitäre Systeme typisch sei und einem "Gemeinwohl a posteriori", das die pluralistischen Demokratietheorie kennzeichne: "Eine jede totalitäre Diktatur geht von der Hypothese eines eindeutig bestimmbaren, vorgegebenen Gemeinwohls aus. Von ihm wird unterstellt, es sei ausreichend detailliert, um von der Einheitspartei als politisches Aktionsprogramm verwertet werden zu können. Der Pluralismus beruht auf der Hypothese, dass in einer differenzierten Gesellschaft im Bereich der Politik das Gemeinwohl lediglich a posteriori als das Ergebnis eines delikaten Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht wird". (aus Ernst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien,
6. Auflage. Stuttgart u. a. 1974, S.189, S. 200. Alle Seitenangaben beziehen sich hierauf.).

Deshalb ist die politische Vertretung von Partikularinteressen - auch in der organisierten Form von Interessengruppen, Verbänden und Parteien - kein Übel, das es möglichst zu unterdrücken gilt, sondern eine notwendige Vorbedingung für die Ermittlung des Gemeinwohls in einer modernen, hoch differenzierten Gesellschaft. "Die westlichen Demokratien lehnen es ab, die Träger kollektiver Interessen gleichzuschalten oder auszuschalten, weil sie darauf vertrauen, dass das Gemeinwohl nicht trotz der Betätigung sondern gerade dank der Mitwirkung von Interessenverbänden zu Stande zu kommen vermag (S. 46)."

Ohne dass Fraenkel dies ausdrücklich formuliert, bewegte er sich hier in der Nähe eines utilitaristische Verständnisses vom Gemeinwohl. Für die Utilitaristen war das gesellschaftliche Interesse nichts anderes als eine bestimmte Zusammenfassung der individuellen Interessen. Da man das, was im Gesamtinteresse liegt, nur durch eine Abwägung der Partikularinteressen ermitteln kann, so muss man diesen Partikularinteressen auch die Möglichkeit der Artikulation und Organisation lassen. Die Existenz von unterschiedlichen Interessengruppen, Verbänden und Parteien ist deshalb der Bestimmung des Gesamtinteresses nicht entgegengesetzt sondern umgekehrt notwendig zu seiner Bestimmung. Für Theorien, die das Gesamtinteresse als Resultat unterschiedlicher Partikularinteressen ansehen, bedeutet die moderne Entwicklung von Parteien, Verbänden und anderen autonomen Interessengruppen also kein prinzipielles Problem.

Bei dieser Konzeption drängt sich jedoch sofort das die Frage auf, wieso sich aus dem Kräftespiel unterschiedlicher, organisierten Gruppeninteressen ein normativ akzeptables Resultat, ein Gemeinwohl a posteriori wie Fraenkel es nennt, ergeben soll.

Wie Fraenkel selber betont, "wäre es falsch, … den Staatswillen schlechthin mit den Resultaten dieses kollektiven Tauziehens identifizieren zu wollen (S. 45)." Er schreibt: "So unentbehrlich es für die westlichen Demokratien ist, den in den Interessenorganisationen in Erscheinung tretenden differenzierten kollektiven Interessen freien Spielraum zu gewähren, so unerlässlich ist es zu betonen, dass die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen nur dann als verbindlich anerkannt werden können, wenn die Auseinandersetzung unter Einhaltung der Regeln eines fair-play geführt werden und die Ergebnisse der Auseinandersetzungen sich im Rahmen der Mindesterfordernisse der sozialen Gerechtigkeit bewegen".  (S. 45ff.)

An anderer Stelle spricht Fraenkel von "rechtlich normierten Verfahrensvorschriften" (S. 200), von einem "allgemein anerkannten Wertekodex" und einem "Minimum an regulativen Ideen sozialen Verhaltens" (S. 199ff.), die notwendig seien, damit das pluralistische Kräftespiel zu einem akzeptablen Resultat im Sinne eines Gemeinwohls a posteriori führe. Die Grundlage hierfür sieht Fraenkel offenbar im traditionellen Naturrecht, denn er schreibt: "Für eine funktionierende westliche Demokratie ist die Existenz von Interessengruppen und die Geltung eines Naturrechts gleich unentbehrlich". (S.46)

Der Ausgleich zwischen den divergierenden Gruppeninteressen in einer pluralistischen Demokratie soll also im Rahmen allgemein anerkannter moralischer und rechtlicher Normen und Werte stattfinden. Der Konflikt in konkreten Einzelfragen soll vor dem Hintergrund eines Konsens über "allgemeine Rechts- und Sozialprinzipien" (S. 46) ausgetragen werden, die den Interessengruppen "die Grenzen ihrer Betätigungsmöglichkeiten" (S. 46) aufzeigen.

Die Hinweise, die Fraenkel für das befriedigende Funktionieren des pluralistischen Kräftespiels hier gibt, bleiben jedoch eigentümlich vage und leerformelhaft. Wie lassen sich "Mindesterfordernisse der sozialen Gerechtigkeit", "Spielregeln eines fair-play", "die regulative Idee des Gemeinwohls" oder gar "ein allgemein anerkannter Wertkodex" näher präzisieren und begründen? Der Hinweis auf das "Erbe des Naturrechts" hilft auch nicht viel weiter, wenn nicht ausgeführt werden kann, wie dies Erbe beim modernen Stand der Wissenschaftstheorie und Ethik noch angetreten werden kann.

Fraenkels Pluralismustheorie lässt deshalb viele Fragen offen, und meines Wissens haben auch diejenigen, die an Fraenkels Konzeption anknüpfen, diese für die Rechtfertigung einer pluralistischen Demokratie zentralen Fragen nicht weiterverfolgt.

Waren die Überlegungen Fraenkels in den 50er und 60er Jahren noch vorwiegend gegen die Pluralismuskritik von politisch rechts angesiedelten Kritikern gerichtet, die im Anwachsen der Interessenverbände und ihres Einflusses auf die staatliche Politik eine Gefährdung der gesellschaftlichen Einheit sahen (Carl Schmitt, Werner Weber), so setzte Ende der 60er Jahre vor allem die Kritik der politischen Linken ein. Diese  Kritik bestritt, dass in den westlichen Demokratien die Bedingungen für die Artikulation, Organisierung und Durchsetzung der unterschiedlichen Gruppeninteressen so beschaffen waren, dass das politische Resultat als ein Ausdruck der in der Bevölkerung tatsächlich vorhandenen Interessen angesehen werden konnte.

Insbesondere wird von den linken Pluralismuskritikern die Frage thematisiert, ob eine parlamentarische Demokratie vor dem Hintergrund einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt befriedigend funktionieren kann, da in kapitalistischen Wirtschaften gewöhnlich eine große Ungleichheit der Vermögen und Einkommen besteht und die wirtschaftliche Verfügungsgewalt der privaten Eigentümer auch zu politischen Zwecken eingesetzt werden kann.

Dies wird etwa deutlich bei Fernsehsendern und Zeitungen, die sich im Privatbesitz befinden, bei privat finanzierten Verbänden, wissenschaftlichen Instituten und Bildungseinrichtung, bei Spenden an politische Parteien, wo wirtschaftlicher Reichtum unmittelbar zur gezielten Beeinflussung der Meinungen und des politischen Verhaltens eingesetzt werden kann.

Neben der direkten Beeinflussung der politischen Meinungen und Einstellungen der Wähler bietet wirtschaftliche Macht (so wie jede andere Macht) auch die Möglichkeit, unerwünschte politische Entscheidungen dadurch zu verhindern, dass man für den Fall ihrer Realisierung negative Gegenreaktionen in Aussicht stellt. Drastische Steuererhöhungen z. B. führen in kapitalistischen Wirtschaftssystemen bei den Eigentümern gewöhnlich zum Rückgang von Investitionen oder Kapitalflucht ins Ausland, was sich negativ auf die inländische Produktion und Beschäftigung auswirkt. Deshalb werden die Wähler, die keine Wirtschaftskrise wünschen, nicht nur auf Grund von Meinungsmanipulation sondern in ihrem eigenen Interesse Abstand nehmen von einer Politik, die die wirtschaftlich Mächtigen treffen würde und die gesamtwirtschaftlich negative Gegenreaktion auslösen würde.

Entsprechendes gilt für die Macht zum Putsch bereiter Militärs, die zu erkennen geben, dass sie nicht jedes Wahlergebnis respektieren werden.

Auch bei völlig gleichem und geheimem Wahlrecht aller ist also eine gleichgewichtige Berücksichtigung der Interessen aller Individuen keineswegs gewährleistet. Je ungleicher die Macht in einer Gesellschaft verteilt ist, umso stärker können die Mächtigen ihre Partikularinteressen auch in einer verfahrensmäßig völlig korrekten parlamentarischen Demokratie durchsetzen.

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Anhang:

Zum Unterschied der Demokratievorstellungen von Jean Jacques Rousseau und Ernst Fraenkel

Rousseau: Die Gesellschaft ist weitgehend homogen ohne stärkere Unterschiede in Bezug auf Vermögen und Bildung.
Fraenkel: Die Gesellschaft ist in Bezug auf die soziale Schichtung nicht festgelegt. Große Unterschiede sind möglich.

Rousseau: Die Republik als politische Einheit ist überschaubar (so wie z. B. Rousseaus Heimatstadt Genf).
Fraenkel: Ein Staat kann viele Millionenen von Staatsbürgern in riesigen Flächenstaaten umfassen.

Rousseau: Die Staatsbürger stimmen über alle Gesetze unmittelbar ab.
Fraenkel: Die Staatsbürger wählen Abgeordnete in ein Parlament, das die Gesetze beschließt.

Rousseau: Die Staatsbürger stimmen über jedes einzelne Gesetz getrennt ab.
Fraenkel: Die Staatsbürger stimmen über Kandidaten der Parteien ab, die ein ganzes politisches Programm vertreten.

Rousseau: Bei der Abstimmung über die Gesetze bilden die Staatsbürger eine Art Jury, die ein Urteil über das Gemeinwohl abgibt. Unterschiedliches Wahlverhalten zeigt eine Uneinigkeit über das, was dem Gemeinwohl entspricht.
Fraenkel: Bei der Wahl zwischen den Parteien drücken die Wähler ihre besonderen Interessen aus. Unterschiedliches Wahlverhalten ist angesichts unterschiedlicher Interessen normal.

Rousseau: Wenn Staatsbürger bei der Abstimmung von einer Mehrheit überstimmt werden, so zeigt dies, dass sie sich in Bezug auf das Gemeinwohl geirrt haben. Eine legale Opposition kann es deshalb nicht geben.
Fraenkel: Wenn ein Wähler eine Partei gewählt hat, die keine Mehrheit für die Regierungsbildung bekommt, so bildet diese Partei die Opposition, die bis zur nächsten Wahl die Regierungsarbeit beobachtet und kritisiert.

Rousseau: Die Bildung von Parteien und Verbänden zur Förderung spezifischer Interessen ist unzulässig. Sie verfälschen das Urteil der Staatsbürger und verhindern die Bestimmung des Gemeinwohls.
Fraenkel: Parteien sind notwendig, um die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Staatsbürger zusammenzufassen und zu Programmen zu bündeln, die eine Mehrheit finden können.

Rousseau: Im Idealfall sollten alle Gesetze einstimmig beschlossen werden. Das Mehrheitsprinzip ist nur ein Notbehelf, um trotz unterschiedlicher Meinungen über das Gemeinwohl einen handlungsfähigen Staat zu erhalten.
Fraenkel: Einstimmigkeit und Konsens muss nur in Bezug auf die Grundsätze der Verfassung und die allgemeinsten Prinzipien der Gerechtigkeit herrschen. Innerhalb dieses Rahmens wird dann mehrheitlich entschieden. Verschiedene Verfahrensregeln und Institutionen (checks and balances) wie das 2-Kammern-System sorgen dafür, dass partikulare Interessen nicht übermächtig werden.

Rousseau: Die allgemeine Form der Gesetze, die für alle Staatsbürger in gleicher Weise gelten, verhindert die Durchsetzung partikularer Interessen. Der Inhalt des Allgemeinen Willens, das Gemeinwohl, ergibt sich aus der Abstimmung der Staatsbürger. Eine davon unabhängige Bestimmung des Gemeinwohls durch Argumentation gibt es nicht.
Fraenkel: Eine theoretische Bestimmung des Gemeinwohls unabhängig vom politischen Prozess ist nicht möglich. Allerdings sollte es in der Gesellschaft einen Konsens über grundlegende ethische Prinzipien ("Naturrecht") geben.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Demokratie bei Rousseau ** (24 K)
   
Mehrheitsprinzip § 108

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Letzte Bearbeitung 20.05.2008 / Eberhard Wesche

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